Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.2.2000

 Brabbel, brabbel, das Ganze gut gemischt
Die Rezepte des Pioniers der japanischen Chirurgie litten unter der Übersetzung


Wolfgang Michel widerlegt den Mythos eines zur Edo-Zeit (1600-1868) hermetisch abgeriegelten japanischen Staates und analysiert das aufklärerische Potential hier unter dem Begriff "Hollandlehre" eingeführten astronomischen, nautischen, geographischen, künstlerischen, waffentechnischen und -- am Beispiel des Lebens und Wirkens des Chirurgen Caspar Schamberger (1623 bis 1706) in Japan -- medizinisch-pharmazeutischen Disziplinen. Bei gleichzeitiger Kontrolle der Handels- und Informationsströme fand "auf bestimmten Gebieten eher eine Ausweitung" statt. Als Kontaktbörse mit Europa, als Umschlagplatz für Wissen und Waren, diente die der Bucht von Nagasaki vorgelagerte künstliche Insel Deshima.

Im Pestjahr 1637 beginnt Schamberger in Leipzig eine chirurgische Lehre, anno 1640 erhält er die Dismission. Seine Lehr- und Wanderjahre sollten den vor den Wirren des dreißigjährigen Krieges fliehenden Sachsen zunächst nach Hamburg, Danzig, Schweden, Danemark und die Niederlande führen. Hier bewirbt sich der junge Mann als Schiffschirurg bei der Ostindischen Kompanie (VOC). 1643 sticht Schamberg auf dem Admiral-Schiff "Eiland Mauritius" von Texel aus in See, um nach überstandenen Epidemien und Meutereien am Kap der Guten Hoffnung Schiffbruch zu erleiden. Die Weiterfahrt nach Batavia erfolgl auf einem anderen Schiff. Von Batavia und dem Stützpunkt Zeelandia auf Formosa aus begleitet Schamberger als Schiffsbarbier Handelsfahrten und kriegerische Expeditionen. 1649 wird im Zuge der turnusmäßigen Rotation eine neue Faktoreibelegschaft zum japanischen Stützpunkt nach Deshima beordert.

Nach Vertreibung von Spaniern und Portugiesen besaß die eher kapitalistisch als katholisch eingestellte VOC in Japan das europäische Handels- und Nachrichtenmonopol. Neben Seidenstoffen, Baumwoll- und Wollwebwaren, Gewürzdrogen, Heilmitteln, Farbstoffen, Zucker und Hölzern hatten die "Rotschöpfe" den weltpolitisch interessierten japanischen Behörden ein regelmäßiges "Schreiben über das aus Holland gehörte" abzuliefern. Schamberger arbeitete von 1649 bis 1651 in Japan. Der Aktionsradius des Faktoreiarztes war beschränkt, nur angelegentlich zweier Feste sowie zu Antritts- und Abschiedsbesuchen durften die Europäer ihre fächerförmige Insel verlassen.

Doch Schamberger durfte im Gefolge des Faktoreileiters zweimal an der jährlich stattfindenden Hofreise über die Inlandsee und entlang der "Ostmeerstraße" von Kioto nanh Edo (heute Tokio) teihnehmen. In Edo therapierte er wichtige Männer des Reiches. Kein europäischer Chirurg vor und nach ihm durfte so lange -- insgesamt dreizehn Monate -- in Edo bleiben. Der über diese Aktivitäten erfreute Shogun ließ Schambergers Aufenthalt verlängern und mehrere Hofärzte anweisen, dessen Kunst zu erlernen. Die Landesfürsten und lokalen Gouverneure entsandten ihrerseits Ärzte zur Schulung bei Schamberger und seinen Nachfolgern nach Nagasaki und bestellten bei der Kompanie chirurgische Instrumente, Kräuter und Medikamente. Auch das gegen die Verbreitung christlicher Schriften erichtete Einfuhrverbot von Büchern wurde bei "nützlichen" medizinischen Titeln laxer gehandthabt. Die Berichte, die der Dolmetscher Inomata Im Auftrag der Nagasaki-Gouverneure von Schambergers Taten, Kuren und Operationen erstelle, verbreiteten sich über Hof- und Leibärzte und deren Schüler bis in die Lehen.


Der Locus Cocus war für für Japans Ärzte nur ein Jokus. Sie glaubten, alle Pole des Kopfes besser zu kennen als die westlichen Kollegen.
Abbildung aus dem besprochenen Band

Da Inomata aber vergaß, die Zahlen von Heilmischungen auf die in Europa und Japan unterschiedlichen Gewichtseinheiten abzugleichen, rührten die Japaner sie in falschen Mengenverhältnissen an.

1980 tauchte eine erste überprüfbare Abschrift dieser "geheimen Überlieferung medizinischer Rezepte der Holland-Chirurgie" auf. Eine weitere Quelle zur Rekonstruktion der Tätigkeit Schambergers sind die Tagebücher des Faktoreileiters von Nagasaki. Als Präsente für den Reichsinpekteur Inou sind hier Miira ("bei Prellungen durch Stürze vom Pferd"), Bernstein ("bei Fieber, Nasen- und Ohrenkälte") oder Opium ("beim Venusspiel stärkt ein wenig davon den Körper") vermerkt. Chirurgie und Anatomie. so Michels These, sind dem traditionell ganzheitlichen asiatischen Denken wesensfremd. Starstich, Steinschnitt, Schädelöffnungen und Amputationen waren wenig verbreitet. Wo Organe weder bei der Diagnose noch in der Therapie eine entscheidende Rolle spielten, bedurfte es keiner Beobachtung der Beschaffenheit von Herz oder Galle. Vielmehr imaginierte die chinesisch beeinflusste Medizin den Körper als Netzwerk von Trakten und Kanälen, in denen die lebensnotwendige Energie "Ki" zirkulierte. Doch die durch Einführung westlicher Feuerwaffen hervorgebrachten neuen Wundtypen erforderten ein Umdenken in den Rehandlungsmethoden. Bei Kopfverletzungen verwandten Schambergers Schüler jetzt Sonden, zum Aufstechen reifer Geschwulste Nadeln sowie Lanzetten zum Auf- und Ausschneiden. Offene Wunden wurden mit gewachsten Hanffäden vernäht, als Verbandsstoff diente Baumwollgewebe. Michel konstatiert ein "bescheidenes Instrumentarium" im Rahmen der westlichen "Niederen Chirurgie". Europäische Anatomiebücher aber wurden erst Jahrzehnte nach Schambergers Abreise in größerem Maße kopiert und rezipiert.

Nach Ende seiner Dienstzeit in Japan betätigte sich Schamberger noch einige Jahre als Schiffschirurg im süd- und südostasiatischen Raum, um schließlich 1655 in sächsische Gefilde heimzukehren. In Leipzig lebte er unter Aufgabe seines gelernten Berufes als geachteter Handelsmann, heiratete dreimal und zeugte zehn Kinder. Vielleicht hätte Michel die folgenden Details aus Schambergers bürgerlichem Leben zugunsten einer -- nunmehr als separaten Publikatin geplanten -- tiefer gehenden medizinhistorischen Analyse hintanstellen sollen. Die Offenlegung der bis dato nur rudimentär bekannten Biographie des Stammvater der "Chirurgie im Stile Caspars" bleibt gleichwohl ein für die Gschichtsschreibung deutsch-japanischer Beziehungen wichtiges Verdienst. Den trotz aller politischen Widrigkeiten und kulturellen Unterschiede durch Pioniere wie Schamberger erfolgten Wissenstransfer, den andere medizinisch tätige Japan-Fahrer wie Engelbert Kaempfer und Philipp Franz von Siebold weiterführten sieht der Autor als Basis für die nach der Landesöffnung rasant einsetzende Modernisierung. Steffen Gnam

 

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