Neue Zürcher Zeitung, 5./6. Januar 2002

Vorurteilsloser Blick
Der Japanforscher Engelbert Kaempfer in einer grossen Ausgabe


Von Ludger Lütkehaus

Der grosse Asienreisende und -forscher Engelbert Kaempfer, geboren vor gut 350 Jahren am 16. September 1651 in Lemgo, gestorben in Lieme bei Lemgo am 2. November 1716, ist selbst Lesern der Literatur der europäischen Aufklärung kaum noch bekannt. Dabei war Kaernpfer nicht nur eine, er war die Informationsquelle des 18. Jahrhunderts zu Japan in der Epoche seiner fast hermetischen Abgeschlossenheit. Voltaire, Lessing, Wieland, Goethe, Goldsmith, Albrecht von Haller, der Marquis d’Argens und andere Grössen des Zeitalters haben ihn gelesen und zum Teil sehr geschätzt, wie jetzt aus einer rezeptionshistorischen Studie von Peter Kapitza über “Engelbert Kaempfer und die europäische Aufklärung” zu erfahren ist.

Nachder er zunächst Arzt und Sekretär einer schwedischen Russland- und Persien-Gesandtschaflt gewesen war, hat Kaempfer im Anschluss daran in den Diensten der Niederländisch-Ostindischern Compagie Arabien, Indien, Sumatra, Java, Siam und von September 1690 bis Oktober 1692 Japan bereist. Im besten Sinn neugrierig, hat er als Vertreter der europäischen Frühaufklärung einen weitgehend vorurteilslosen, eurozentrisch nicht deformierten Blick auf die von ihm erkundeten Länder geworfen.

Zu Kaempfers 350. Geburtstag ist im Iudicium-Verlag eine historisch-kritische Ausgabe seiner japanologischen Werke, seiner Briefe und Zeichnungen begonnen worden, die durch philologische Akkuratesse, einen eingehenden Kommentar, die Erschliessung durch ein detailliertes Register und auch durch den bibliophilen Auftritt besticht: ein Meilenstein der historischen Japanforschung, eine Freude für Liebhaber von Japonica dazu. Im Zentrum steht Kaempfers japanologisches Grundlagenwerk “Heutiges Japan”. Die Briefe von und an Kaempfer aus den Jahren 1683 bis 1715 liegen ebenfalls schon vor. 2002 wird das Corpus seiner Zeichnungen japanischer Pflanzen folgen.

Anders als die weithin berühmten “Amoenitates exoticae”, die “exotishen Lieblichkeiten”, ist Kaempfers Klassiker “Heutiges Japan”, der im Titel ein Gegenwartswerk zu verheissen scheint, erst postum 1727 erschienen, und zwar in einer englischen Übersetzung des Schweizers Johann Caspar Scheuchzer. “The History of Japan” ist ein in jedem Sinn gewichtiges Werks, das selbst konditionsstärkste Bergsteiger nicht auf den Gipfel des Scheuchzerhorns mitnehmen werden wollen. Aber schon der englische Titel wurde dem riesigen landeskundlichen Reichtum von Kaempfers “Heutigem Japan” nicht gerecht, das buchstäblich alles umfasst: Geographie, Botanik, Zoologie, Sprache, Religion, Kultur, Politik, Gesellschaft, Geschichte - und vorab natürlich Kaempfers Reisebericht, der einen Höhepunkt mit der Audienz bei dem “Kaiser” und einer Kaempferschen Sangesdarbietung eines deutschen Liedes erreicht. Sie ist auch nicht ohne eine gewisse Komik. Einen geradezu ehrfurchtsvollen Respekt verdient aber Kaempfers offensichtlich unstillbarer Wissensdurst.

Im Übrigen ging Scheuchzers verdienstvolle Ausgabe, die eine weitere Auflage und mehrere Übersetzungen erlebte, ziemlich eigentwillige Wege. Scheuchzer erweiterte Kaempfers Werk um eigene Zugaben und war nicht just das Ideal eines quellentreuen Übersetzers. Und auch die deutsche Ausgabe durch Christian Wilhelm von Dohm, die unter dem Titel “Geschichte und Beschreibung von Japan” 1777-1778 erschien, war eher an Scheuchzers Version orientiert und passte Kaempfers unverwechselbaren Stil dem einer ganz anderen Zeit an. Die jetzt vorgelegte Edition geht demgegenüber auf das in der Sloane Collection de British Library vewahrte Originalmanuskript zurück. Der textkritische Kommentar macht die Eingriffe von Scheuchzer und Dohm deutlich.

Welches Japan, welche Japaner zeigt Kaempfer? Die Japaner, “ein behertzt, klug und Heroisch Volck”, sind “ohngeachtet ihres Hochmuts und Kriegerischen Art”, trotz ihrem Ahnenstolz, der sich um keinen Preis von “sinesischen” Ahnen her datieren will, “eine “freündselige und conversable und so Neügierige Nation, als eine auf der Welt zu finden, und daher zur Gemeinschaft und Vertrauligkeit, mit auswertigen Völckern, von Natur geneigt, und insonderheit dero historien, Künste und Wissenschafften sehr begierig” – was freilich für die europäischen “Kauffleüte” nicht nur angenehm ist, weil die Japaner diese “in die untersten Range der Menschen stellen”.

Kaempfer sieht auch, dass die allen Kolonial- und Missionsinteressen so sehr zuwiderlaufende Abschliessung Japans unter dem Tokugawa-Schogunat auch ihre Vorzüge hatte. Sie gestattete Befriedung nach den Metzeleien der Bürgerkriege, ja eine Befreiung des Landes vom europäischen Teufelswerk: den Feuerwaffen – bis der amerikanische Commodore Perry mittels Kanonenbootpolitik für die Öffnung und die technologische Aufrüsten des Landes unter der “Meiji-Restauration” sorgte. Mit den konfessionellen und merkantilen portugiesischen Konkurrenten geht Kaempfer erstaunlich duldsam um, vermerkt allerdings auch mit Nachdruck, dass für ihren Fall und die schliessliche “Vertiglung” in den Christenverfolgungen ihre “Hoffart” und ihr “Geitz” entscheidende Ursachen waren. “Man schneützte die Japaner um ihr Geld, wie man best konte.” Und die “Patres” wurden “nicht nuhr Seel- sondern auch Geld und Grund gierich” befunden. Ihre christliche Hoffart war “mit einheimischer Religion grund streitig und incompatible”.

In seinen religiösen Vorurteilen findet allerdings auch Kaempfers Einfühlung ihre Grenzen. Selbst bei den “Budsdo” entdeckt er primär nur Götzendienst, “Superstition”, “magische Künste”, “und andere übernatürliche Sachen”. Immerhin, die Meditation, die sich so anziehend von der christlichen Obsession für den Kniefall unterscheidet, beschreibt er ziemlich genau: “eine der geistlichen nachdenckung eigene Manier zu sitzen; worin die füsse” zwar “unnatürlich über einander geflochten liegen; (...) die gedancken aber allem irdischen mit solcher Krafft entzogen werden, dass der leib gleichsam sinnloss (...) wierd” – gemeint ist: “sinnen-los”, von den Sinnen frei. Das Sitzen ist ein “Enthisiastischer actus” mit der “revelation oder ausgefundenen Wahrheit” des “Satóri” als Inbegriff des “Weges zur Seligkeit” – trotz Himmel und Hölle, die die “Metempsychosie” zu einer wie im Christentum ebenso aussichtsreichen wie riskanten Sache machen.

Doch auch die unterschiedlichen Formen der immanenten Risiken wollen gewürdigt sein. Kaempfer unterscheidet klassifikatorisch streng die “stummen” und die “gemeinen” Bettler von den “Lesenden bettel pfaffen” wie von den “berg pfaffen”. Von den “Haüen”, den “anthropophagischen Menschen fressern”, die sich zur Mahlzeit auf den Rücken drehen und die Matrosen am Baden hindern, führt ihn der Weg zu den “Gaar Küchen” und ins unsentimental beim Namen genannte, aber wegen seiner Sauberkeit gerühmte “Kack haus”. Da sah es unter den europäischen Barbaren doch ganz anders aus.

Nichtsdestoweniger ist Kaempfer von seiner fürwahr erstaunlichen Forschungsreise in das offene Europa zurückkegeht, das erst ein guten Jahrhundert später seine Art der “Kontinentalsperre” ausrief. Kaempfers abenteuerliches, so weit gespanntes Leben endete in seiner westfälischen Heimat, freilach nach allerlei häuslichen Widerwärtigkeiten und anhaltenden Kolikschmerzen. Die Arbeit an seinem Opus magnum wird ihm immerhin das Leiden gemildert haben – so wie die Lektüre dem “curieusen” Leser von heute Freude schenkt.

Engelbert Kaempfer: Werke. Kritische Ausgabe in Einzelbänden. Hrsg. Detlef Haberland, Wolfgang Michel, Elisabeth Gössmann.
Band I/1: Heutiges Japan. Hrsg. Wolfang Michel und Barend J. Terwiel. Iudicium-Verlag. München 2001. 770 und 830 S., 293 und 77 Abb.
Bd II: Briefe 1683-1715. Hrsg. Detlef Haberland. 650S., 25 Abb.
Peter Kapitza: Engelbert Kaempfer und die europäische Aufklärung. Iudicium-Verlag, München 2001. 48 S. [Prof. Dr. Ludger Lütgehaus, Universität Freiburg i.Br.]

 

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