Die lebens art der Menschen ist so civil, das man
das ganze Reich eine hohe Schule aller Höfflichkeit
und guten Sitte nennen mag. Über Japan schrieb
das Engelbert Kaempfer, einer der interessantesten
Gelehrten des ausgehenden siebzehnten Jahrhunderts. So
breit seine Interessen waren, mangelte es ihm bei ihrer
Verfolgung nie an Gründlichkeit. Schon früh zog
es ihn aus seiner Heimat im westfälischen Lemgo
hinaus in die Welt. Nach Reisen und Studienaufenthalten in
verschiedenen europäischen Städten wurde er zu
einem der bedeutendsten Asienreisenden seiner Zeit.
Bedeutend deshalb, weil er im Geist des Forschers, nicht
des Abenteurers reiste, den fremden Ländern, die er
erfuhr, mit dem systematisch geschulten und offenen Blick
der wissenschaftlichen Neugier begegnete und seine
Erfahrungen aufzeichnete.
Als Sekretär einer schwedischen Gesandtschaft
besuchte er die Höfe des russischen Zaren und des
Schahs von Persien. Er trat in den Dienst der Verenigde
Oostindische Compagnie (VOC), der holländischen
Handelsgesellschaft, die mächtiger war als mancher
Staat. Zweieinhalb Jahre arbeitete er für sie als
Arzt in Bandar Abbas am Persischen Golf und erhielt dann
die Gelegenheit, weiter nach Indien und Java zu segeln. Er
fuhrnach Japan, um in Nagasaki von September 1690 bis
Oktober 1692 die Pflichten des Faktoreiarztes zu versehen
und auf diese Weise eine Rolle in einem der
interessantesten Kapitel der europäischen Expansion
zu spielen.
Denn die niederländische Präsens in Japan war
nicht durch eine Zivilisationsmission gekennzeichnet.
Anders als die Weißen in anderen Teilen der Welt
waren die Holländer nicht in Japan, um die
barbarischen Eingeborenen geistig und materiell zu
erheben, zu erlösen und zu unterjochen. Sie wollten
Handel treiben, und nur darum wurden sie geduldet. Die
japanische Regierung stand der westlichen Welt, vertreten
hautsächlich durch professionelle Seelenretter, voll
Misstrauen gegenüber.
Kaempfer hat ein Werk hinterlassen, dessen Kernstück
seine Aufzeichnungen Heutiges Japan sind.
Anlässlich seines dreihundertfünfzigsten
Geburtstags ist das zu seinen Lebzeiten
unveröffentlichte Buch nun in einer neuen Edition als
Teil einer kritischen Werkausgabe erschienen. In vier
Bänden Heutiges Japan,
Briefe 1683-1715, Zeichnungen
japanischer Pflanzen und ein umfangreicher
Stellenkommentar macht sie Kaempfers Schriften
erstmals in ihrer ganzen Breite zugänglich. Für
die Japanforschung ebenso wie für die
europäische Geistesgeschichte wird dadurch eine
Lücke geschlossen, wofür man die Herausgeber und
den Verleger nicht genug loben kann.
Die Faszination der Lektüre ist eine vielfache. Dass
Kaempfers Japanbuch, zuerst in englischer Übersetzung
und dann auch auf Französisch und Niederländisch
erschienen, im 18. Jahrhundert zu der autoritativen
Darstellung dieses Landes in ganz Europa wurde, kann man
auch heute noch nachvollziehen. Sein scharfes Auge, seine
prägnanten Formulierungen und der Detailreichtum
seiner Schilderungen gewähren uns einen Blick auf
eine zeitlich und räumlich entrückte Welt, der
dem Historiker nicht weniger zu bieten hat als dem
Ethnologen. Zweimal während seines Aufenthalts hatte
Kaempfer Gelegenheit, den Faktoreivorsteher auf seiner
Reise nach Edo, dem heutigen Tokio, zu begleiten, wo
dieser dem Shogun alljährlich seine Reverenz erweisen
musste. Er besuchte Städte, Tempel und Klöster,
lernte die Reisegewohnheiten der Japaner kennen und gewann
Einblicke in ihr tägliches Leben.
Seine Darstellungen gehen durchweg über den illustren
Reisebericht hinaus. Von Anfang an ist sein insgesamt sehr
erfolgreiches Bemühen um eine systematische
Beschreibung deutlich. Klima, Geographie und Landschaft,
Flora und Fauna beschreibt er akribisch, aber die
Befragung japanischer Informanten erlaubte es ihm auch,
seine Leser über die Geschichte, das politische
System, die Gesellschaftsordnung, den Handel, die Religion
sowie Moral, Sitten und Bräuche zu unterrichten. Und
was es an schriftlichen Aufzeichnungen über Japan
gab, z. B., die Tagesregister der VOC in Nagasaki wie auch
in Batavia, machte sich der Lemgoer Mediziner und
Botaniker bei seinem Versuch, sich ein Bild von diesem
Land zu machen, zunutze.
Im Dickicht der Eigennamen
Kaempfers Gelehrsamkeit und Fleiß, mit dem er alles,
was er erfahren konnte, zusammentrug, zwingen jeden, der
sich heute mit Japan beschäftigt, in wenigen
Flugstunden dort sein kann, reiche Spezialbibliotheken zur
Verfügung hat und sich im japanischen Internet
praktisch unbegrenzter Quellen bedienen kann, zu Respekt,
ja, Demut.
Für den unvorbereiteten und auch den gebildeten Leser
ist Kaempfers Text freilich nicht leicht zugänglich.
Das liegt weniger an der altertümlichen Sprache, in
die man sich schnell einliest, als an dem Abstand, der uns
von Japan, von Kaempfer und von seinen Lesern trennt. Die
Herausgeber bringen ihn uns durch ihre Arbeit näher
und erweisen sich als würdige Erben Kaempfers. Nur
wenige verfügen über die Kenntnisse, die
erforderlich sind, um Licht in das von dem
Forschungsreisenden hinterlassene Dickicht aus japanischen
und chinesischen Eigennamen, Amtsbezeichnungen und
Fachausdrücken in deutscher, niederländischer
und lateinischer Sprache zu bringen.
Über den Stellenkommentar hinaus enthalten die
Bände ausführliche Essays über Kaempfer und
sein Leben, über die verschlungenen Wege seiner
Manuskripte, die heute in der British Library aufbewahrt
werden, und über den geschichtlichen Hintergrund der
interkulturellen Begegnung, die Kaempfer in seiner Person
verkörperte und in seinen Schriften bezeugte. Die
Herausgeber haben dadurch nicht nur dem Werk Kaempfers den
ihm gebührenden Platz gesichert, sondern auch einen
wichtigen Beitrag zur Erforschung der Beziehungen zwischen
Europa und Japan geleistet.
FLORIAN COULMAS