LITERATUR
Süddeutsche Zeitung, Nr. 98 (27. April 2002), Seite V.

Reise in den Sonnenaufgang
Im Dienste von Handel und Wissenschaft: Engelbert Kaempfer in einer gründlichen Gesamtausgabe


„Die lebens art der Menschen ist so civil, das man das ganze Reich eine hohe Schule aller Höfflichkeit und guten Sitte nennen mag.” Über Japan schrieb das Engelbert Kaempfer, einer der interessantesten Gelehrten des ausgehenden siebzehnten Jahrhunderts. So breit seine Interessen waren, mangelte es ihm bei ihrer Verfolgung nie an Gründlichkeit. Schon früh zog es ihn aus seiner Heimat im westfälischen Lemgo hinaus in die Welt. Nach Reisen und Studienaufenthalten in verschiedenen europäischen Städten wurde er zu einem der bedeutendsten Asienreisenden seiner Zeit. Bedeutend deshalb, weil er im Geist des Forschers, nicht des Abenteurers reiste, den fremden Ländern, die er erfuhr, mit dem systematisch geschulten und offenen Blick der wissenschaftlichen Neugier begegnete und seine Erfahrungen aufzeichnete.

Als Sekretär einer schwedischen Gesandtschaft besuchte er die Höfe des russischen Zaren und des Schahs von Persien. Er trat in den Dienst der Verenigde Oostindische Compagnie (VOC), der holländischen Handelsgesellschaft, die mächtiger war als mancher Staat. Zweieinhalb Jahre arbeitete er für sie als Arzt in Bandar Abbas am Persischen Golf und erhielt dann die Gelegenheit, weiter nach Indien und Java zu segeln. Er fuhrnach Japan, um in Nagasaki von September 1690 bis Oktober 1692 die Pflichten des Faktoreiarztes zu versehen und auf diese Weise eine Rolle in einem der interessantesten Kapitel der europäischen Expansion zu spielen.

Denn die niederländische Präsens in Japan war nicht durch eine Zivilisationsmission gekennzeichnet. Anders als die Weißen in anderen Teilen der Welt waren die Holländer nicht in Japan, um die barbarischen Eingeborenen geistig und materiell zu erheben, zu erlösen und zu unterjochen. Sie wollten Handel treiben, und nur darum wurden sie geduldet. Die japanische Regierung stand der westlichen Welt, vertreten hautsächlich durch professionelle Seelenretter, voll Misstrauen gegenüber.

Kaempfer hat ein Werk hinterlassen, dessen Kernstück seine Aufzeichnungen „Heutiges Japan“ sind. Anlässlich seines dreihundertfünfzigsten Geburtstags ist das zu seinen Lebzeiten unveröffentlichte Buch nun in einer neuen Edition als Teil einer kritischen Werkausgabe erschienen. In vier Bänden – „Heutiges Japan“, „Briefe 1683-1715“, „Zeichnungen japanischer Pflanzen“ und ein umfangreicher Stellenkommentar – macht sie Kaempfers Schriften erstmals in ihrer ganzen Breite zugänglich. Für die Japanforschung ebenso wie für die europäische Geistesgeschichte wird dadurch eine Lücke geschlossen, wofür man die Herausgeber und den Verleger nicht genug loben kann.

Die Faszination der Lektüre ist eine vielfache. Dass Kaempfers Japanbuch, zuerst in englischer Übersetzung und dann auch auf Französisch und Niederländisch erschienen, im 18. Jahrhundert zu der autoritativen Darstellung dieses Landes in ganz Europa wurde, kann man auch heute noch nachvollziehen. Sein scharfes Auge, seine prägnanten Formulierungen und der Detailreichtum seiner Schilderungen gewähren uns einen Blick auf eine zeitlich und räumlich entrückte Welt, der dem Historiker nicht weniger zu bieten hat als dem Ethnologen. Zweimal während seines Aufenthalts hatte Kaempfer Gelegenheit, den Faktoreivorsteher auf seiner Reise nach Edo, dem heutigen Tokio, zu begleiten, wo dieser dem Shogun alljährlich seine Reverenz erweisen musste. Er besuchte Städte, Tempel und Klöster, lernte die Reisegewohnheiten der Japaner kennen und gewann Einblicke in ihr tägliches Leben.

Seine Darstellungen gehen durchweg über den illustren Reisebericht hinaus. Von Anfang an ist sein insgesamt sehr erfolgreiches Bemühen um eine systematische Beschreibung deutlich. Klima, Geographie und Landschaft, Flora und Fauna beschreibt er akribisch, aber die Befragung japanischer Informanten erlaubte es ihm auch, seine Leser über die Geschichte, das politische System, die Gesellschaftsordnung, den Handel, die Religion sowie Moral, Sitten und Bräuche zu unterrichten. Und was es an schriftlichen Aufzeichnungen über Japan gab, z. B., die Tagesregister der VOC in Nagasaki wie auch in Batavia, machte sich der Lemgoer Mediziner und Botaniker bei seinem Versuch, sich ein Bild von diesem Land zu machen, zunutze.

 Im Dickicht der Eigennamen


Kaempfers Gelehrsamkeit und Fleiß, mit dem er alles, was er erfahren konnte, zusammentrug, zwingen jeden, der sich heute mit Japan beschäftigt, in wenigen Flugstunden dort sein kann, reiche Spezialbibliotheken zur Verfügung hat und sich im japanischen Internet praktisch unbegrenzter Quellen bedienen kann, zu Respekt, ja, Demut.

Für den unvorbereiteten und auch den gebildeten Leser ist Kaempfers Text freilich nicht leicht zugänglich. Das liegt weniger an der altertümlichen Sprache, in die man sich schnell einliest, als an dem Abstand, der uns von Japan, von Kaempfer und von seinen Lesern trennt. Die Herausgeber bringen ihn uns durch ihre Arbeit näher und erweisen sich als würdige Erben Kaempfers. Nur wenige verfügen über die Kenntnisse, die erforderlich sind, um Licht in das von dem Forschungsreisenden hinterlassene Dickicht aus japanischen und chinesischen Eigennamen, Amtsbezeichnungen und Fachausdrücken in deutscher, niederländischer und lateinischer Sprache zu bringen.

Über den Stellenkommentar hinaus enthalten die Bände ausführliche Essays über Kaempfer und sein Leben, über die verschlungenen Wege seiner Manuskripte, die heute in der British Library aufbewahrt werden, und über den geschichtlichen Hintergrund der interkulturellen Begegnung, die Kaempfer in seiner Person verkörperte und in seinen Schriften bezeugte. Die Herausgeber haben dadurch nicht nur dem Werk Kaempfers den ihm gebührenden Platz gesichert, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Beziehungen zwischen Europa und Japan geleistet.

FLORIAN COULMAS

 

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