BRUNNEN, Nr. 249, Jan. 1983, p.8-9

Wolfgang Michel

Zur "Wahrheit über Japan"


Wenn ich meine leise deutsche Stimme bescheiden erheben darf: Wer von uns kennt ‘die Wahrheit’ über Japan oder Deutschland oder Herrn Naumann? Fühlen wir uns nicht um so gewisser in deren Besitz, je ferner in Zeit und Raum der Gegenstand unserer geistigen Betrachtung liegt? Und werden wir nicht hilflos angesichts der verwirrend komplexen Sachverhalte heute und hier?

Sicher ist es überaus interessant, jene Aspekte herauszuarbeiten, die man seinerzeit nicht sehen konnte, nicht wahrhaben wollte. Aber mit einem Toten zu rechten scheint mir mit Verlaub nicht der beste Weg, um in der Gegenwart zusammenzufinden. Über das Verstehen von Fakten, Sachverhalten hinaus brauchen wir mehr: Verständnis füreinander. Dies schließt auch das Wissen um unsere Subjektivität in Wahrnehmung, Denken und Handeln ein samt einer gewisscn Toleranz und Gelassenheit uns selbst und anderen gegenüber.

So anregend, informativ und beseelt vom besten Willen all unsere Auseinandersetzungen mit der Vergangeheit sein mögen, die ‘Naumanns’ leben heute unter uns - in Japan, in Deutschland, als Deutsche oder Japaner. Das wären Diskussionspartner, die man zu stellen hätte. In diesen Strauß sollte man sich stürzen, um aneinander zu reifen. Da leben deutsche Korrespondenten in Tokyo, gegen die der selige Naumann nachgerade als glühender Verfechter der japanischen Sache wirkt, und japanische Kollegen in Bonn, bei denen ich kaum nachvollziehen kann, aus welchem Lande die eigentlich berichten. Denen muß eine andere Meinung entgegengestellt werden, als Leserbrief, Gegenartikel, Symposiumsbeitrag. Nicht um ‘die Wahrheit’ aber Japan oder Deutschland ans Licht zu bringen - das scheint mir schlechterdings unmöglich - sondern um von den Stereotypen wegzukommen, denen beide Seiten unterliegen, um einer weiteren Verengung unseres Sichtwinkels, einer Verkrustung unserer Denkstrukturen entgegenzuwirken. Wir haben desweiteren hüben wie drüben Schulbücher, Lexika und andere Nachschlagewerke mit entsprechenden Einlassungen, die in großen Auflagen verbreitet werden. Auch verdient so mancher japanische ‘Bestseller’ aber ‘die Deutschen’ einmal eine echte Kritik - deutsche Besprechungen japankundlicher Werke kennen da wenig Schonung. Und um endlich in unseren engeren Arbeitsbereich zu kommen: Welche ‘Wahrheiten’ vermitteln die Lehrwerke für Deutsch an japanischen Hochschulen? Wer sich bemüßigt fühlt, findet nah und fern Arbeit zuhauf.

Die Naumann-Ogai-Debatte halte ich für außerordentlich lehrreich, demonstriert sie doch exemplarisch viele Schwierigkeiten interkulturellen Kommunizierens. Indes sollte uns das bewundernswerte Engagement von Herrn Dr. Fujii dieser Auseinandersetzung des vergangenen Jahrhunderts auch zur verstärkten Aktivität in Sachen Gegenwart anspornen.

(Lektor, Kyushu-Universität)

 

 

 

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