Japaninfo Nr.2, 7.2.1994, S. 1-2.
Wolfgang Michel

Verabschiedung der Reformgesetze grenzt an ein Wunder im "Irrgarten der Möglichkeiten": Einigung um fünf vor zwölf


Zwei LDP-Ministerpräsidenten, Kaifu und Miyazawa, stürzten bei dem Versuch, das in kaum legitimierbarer Weise den Wählerwillen verzerrende Wahlrecht zu ändern und den Fluß der Spenden etwas einzudämmen und durchsichtiger zu machen. Zwar hatten sie seinerzeit eine komfortable Mehrheit im Parlament, doch scheiterten sie an der Phalanx machtbewußter Abgeordneter aus den eigenen Reihen, die auch an den sich häufenden Skandalen wenig Aufregendes zu erkennen vermochten, ja oft gar den durch die Enthüllungen bloßgestellten 'armen' Kollegen öffentlich ihr Mitgefühl bekundeten.

Vieles sprach dafür, daß Morihiro Hosokawa als Chef einer nicht allzu kohärenten Koalitionsregierung mit seiner dünnen Mehrheit im Parlament ein ähnliches Schicksal beschieden sein würde. Sein Versprechen, in dieser Legislaturperiode die Reformen durchzubringen, deutete auf Mut und/oder Unwissenheit. Daß er seine Schäfchen im Unterhaus zusammenhalten konnte, überraschte nicht wenige. Doch dieser Sieg hatte noch nicht den Feldzug entschieden. Im Oberhaus, ohne dessen Segen Gesetze nicht in Kraft treten, verlegten sich die 'Behutsamen' (shinchô-ha), so die euphemistische Bezeichnung für die liberaldemokratischen Reformgegner, mit Erfolg auf eine Verzögerungstaktik. Und in der Tat gelang es nicht, die Abstimmung bis zum Ende der regulären Sitzungsperiode im Dezember durchzuführen. Um dem Gesichtsverlust vorzubeugen und das gegebene Wahlversprechen Hosokawas einzuhalten, setzte die Regierungskoalition eine Verlängerungbis zum 29. Januar durch. Eigentlich türmen sich die Probleme Japans, jedes für sich .verlangt höchste Aufmerksamkeit. Die Wirtschaft steckt in einer der schwersten Krisen der Nachkriegszeit. Der Haushalt für 1994 müßte schon verabschiedet sein, ist aber nicht einmal vorgelegt. Zu der nach der kontigentierten Freigabe von Reisimporten neu zu entwerfenden Agrarpolitik vernimmt man kaum einen artikulierlen Laut. Von den japanisch-amerikanischen Handelsproblemen ganz zu schweigen. Ausgerechnet jenen Liberaldemokraten, die sich bisher ein großes Verantwortungsbewußtsein für das Wohl der Nation zugutehielten, war in der Opposition jedoch kein Argument zu ausgelutscht, um es nicht noch einmal in den Hickhack einzubringen. Da redete man von einer ‘Politik der Zahl’, sprich Abgeordnetenzahl, die mit.dem Geist der Demokratie nicht zu vereinbaren sei. Man solle über alles doch noch einmal gründlich diskutieren und eine übergreifende Einigung anstreben. Was sei denn so schlecht daran, daß man das Gesetz verbessern wolle? Man solle die Antikorruptionsartikel - also ausgerechnet jenen Teil, bei dem eine Einigung zwischen Regierung und Opposition besonders schwerfällt herausnehmen und vorab verabschieden. Den Rest könne man in der folgenden Legislaturperiode bearbeiten. Auf der anderen Seite versuchte das Regierungslager, durch eine etwas forcierte Abwicklung den Konflikt zwischen Reformgegnern und Reformfreunden in der LDP anzuschüren. Denn um den Ex-Ministerpäsidenten Kaifu hatte sich eine nicht mehr ignorierbare Gruppe von Abgeordneten gesammelt, denen es ernst war mit der Erneuerung, nochzumal infolge wiederholter Nachbesserungen die Regierungsvorlage älteren eigenen Plänen immer ähnlicher wurde. LDP-Parteichef Yôhei Kôno steckte in einer schwierigen Lage. Würden die Reformer sich im Ernstfall abspalten, so zöge man ihn dafür zur Verantwortung. Falls Hosokawa im Falle einer Niederlage mit seiner Regierung zurückträte und Neuwahlen ansetzte, riskierte man ein erneutes Schrumpfen der LDP. Denn unter der aufstöhnenden Bevölkerung zeigte kaum jemand noch Verständnis für das Theater in Tokyo.

Im Regierungslager wiederum hatte besonders Tomiichi Murayama, Vorsitzender der Sozialisten, Mühe mit den eigenen Mannen. Einigen ging die Reform nicht weit genug, und überhaupt konnten sie ihrer Rolle in der Verantwortung wenig Geschmack abgewinnen. Theoretisch besaß die Koalition mit 131 Stimmen im Oberhaus die Mehrheit gegenüber den Liberaldemokraten, Kommunisten sowie dem kleinen Niin-Club, die zusammen 115 Köpfe zählen. Doch wer würde in der Stunde der Entscheidung zu wem überlaufen? Vielleicht war es ein Fehler Hosokawas, vor der Abstimmung zu signalisieren, daß er angesichts der dringenden anderen Probleme eine Niederlage nicht automatisch mit der Ausschreibung von Neuwahlen beantworten würde. Begleitet vom Jubel konservativer Reformgegner unterliefen Abgeordnete der Sozialisten bei der namentlichen Abstimmung am 21. Januar den Beschluß ihrer eigenen Partei, und die Gesetzesvorlage fiel mit 130 gegen 118 Stimmen durch. Das Freudengeheul und Schulterklopfen dürfte vielen Fernsehzuschauern unvergeßlich bleiben. Hosokawa gab in der Tat nicht auf. Zwei verfassungsmäßige Wege blieben, um doch noch eine Verabschiedung zu erreichen. Entweder man fände im Unterhaus bei erneuter Vorlage eine Zweidrittelmehrheit - eine recht utopisch anmutende Vorstellung. Oder aber ein paritätisch aus Vertretern des Ober- und Unterhauses besetzter Vermittlungsausschuß erreichte einen Kompromiß, der dann mit einfacher Mehrheit verabschiedet werden würde. Verwegene Denker schlugen gar vor, man solle doch einfach den Plan der Liberaldemokraten voll übernehmen. Doch die jeglicher Reform abholden 'Steinköpfe' - so das japanische Äquivalent unserer 'Betonköpfe' - fühlten sich durch den Sieg enorm gestärkt, opponierten prinzipiell gegen die Einberufung eines solchen Aussschusses, wollten auch kein Spitzengespräch zwischen ihrem reformverdächtigen Parteichef Kono und Ministerpräsidenten Hosokawa zulassen. Die restlichen Tage waren gezähtl. Am 26. Januar fand der Ausschuß endlich zusammen - nur um den Vorsitz zu regeln und nach wenigen Minuten wieder vertragt zu werden.

Auch als die Koalition tags darauf bei der Verteilung der 500 Mandate (274 direkte und 226 über Verhältniswahl) erneut einlenkte, zeigte die Reaktion der anderen Seite, daß hier keine Lösung gefunden werden sollte. Schon schien es, als ob nur noch die erneute Vorlage im Unterhaus bliebe, wo vielleicht aus den Reihen der Opposition die Reformer ausbrechen und zustimmen würde n. Denn die beschworen ihre eigene Parteiführung, daß es bei einem Scheitern keine zweite Chance mehr zu einer derartigen Reform geben würde, und der Graben zwischen ihnen und den 'Behutsamen' wurde deutlich tiefer. Zudem äußerte Hosokawa nunmehr recht deutlich, daß er an seinem Posten nicht klebe. Neuwahlen mit unkalkulierbaren Folgen angesichts eines nicht verabschiedeten Haushaltes und einer empörten Bevölkerung scheuten aber auch die Reformgegner. Kôno mußte sich für eins der zwei Lager in seiner Partei entscheiden, der Raum zum Lavieren war verschwunden. Bei einem durch die Parlamentspräsidentin Doi vermittelten letzten, nächtlichen Spitzengespräch mit Hosokawa kam es zu erneutern Nachgeben der Koalition und einer in den frühen Morgenstunden des 29. Januarvor laufenden Fernsehkameras unterzeichneten Übereinkunft. Aus der Regierungsvorlage wurde das Datum des Inkrafttretens herausgenommen, um diversen Eventualitäten vorzubeugen, und diese noch in der laufenden Sitzungsperiode, also am 29., dem letzten Tag, in beiden Häusern verabschiedet. In der am 31. Januar beginnenden neuen Legislaturperiode reformiert man gemeinsam noch vor Beginn der Haushaltsberatungen dieses Gesetz gemäß einem beiderseits verabredeten Modus. In 300 Wahlbezirken wird dann künftig per Direktwahl nur noch ein Abgeordneter gewählt. Weitere 200 Abgeordnete kommen über eine Verhältniswahl ins Parlament, bei der das Land in 11 Bloöcke geteilt ist. Wahlspenden von Unternehmen an einzelne Politiker sind nun verboten.



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