JAPANINFO No.4, Ulm 20.3.1995, p. 8.
Wolfgang Michel

Hilflosigkeit der Behörden


Die ersten zwei, drei Tage nach dem großen Beben mochte man seinen Sinnen nicht trauen. Diese Hilflosigkeit der Behörden! Diese menschenverachtende Ignoranz von Politikern und Beamten! Als jede Stunde zählte, erlaubte es der Stolz oder die fehlende Zuständigkeit nicht, ausländische Hilfsangebote anzunehmen. Auf einer ebenfalls von heftigen Zerstörungen heimgesuchten Insel in der Nähe mochte sich der Vertreter des Volkes die Freude an einem Golfturnier nicht nehmen lassen, während seine Wähler in den Trümmern ihrer Straßenzüge scharrten. Es brachte auch viele japanische Fernsehzuschauer an den Rand der Geduld, als sich dann Tage später Politiker aller Güteklassen in geschniegelter Arbeitskluft an den Ort des Geschehens begaben, um den Leuten ein 'ganbatte kudasai' (Kopf hoch!) zuzurufen und ansonsten darauf zu achten, daß die Bügelfalte nicht zerknitterte. Nicht weniger unsäglich war so manche(r) Reporter(in). Besonders die privaten Sender beschäftigen viel junges Volk, weil das billiger ist, nett aussieht und dynamisch wirkt. Viele dieser Plappermäuler brauchten mehrere Rüffel, bis sie kapierten, daß dies kein spannender Actionfilm war und sie endlich ihr Dauergrinsen und die pseudoaufgeregte Redensweise ablegten. Hüpft so eine Amsel neben drei Leuten hin und her, als die verzweifelt eine Nachbarin freilegten, der Kopf gerade so aus den Trümmern ragte. Anstatt ihr geliebtes Mikrofon hinzulegen und Hand anzulegen, kamen da nur halb-hysterische Rufe, ob auch alles in Ordnung sei?

Gäbe es nicht auch Geschichten von Opfermut und Menschlichkeit, man wäre verzweifelt. Da haben Studenten aus einem heil gebliebenen Wohnheim in ihrer Umgebung über hundert Menschen gerettet. Die waren so bescheiden, daß die Hyänen von der Presse viele Tage brauchten, um die Geschichte herauszuschnüffeln. Eine Lastwagenfahrerin hob ihre gesamten Ersparnisse ab, kaufte Notgüter ein und fuhr tagelang ins Katastrophengebiet, um die Leute zu versorgen. Da waren sie im Rathaus noch beschäftigt, ihre Katastrophenpläne zu korrigieren. Präsent hingegen die japanische Mafia mit gut organisiertem Verteiler sowie einige ultranationale Gruppen. Die Armee, die durchaus Katastropheneinsätze trainiert hat, wurde erst spät gerufen. Besonders unter den Sozialisten ist ja die Allergie gegen das Militär immer noch sehr stark. Dem verantwortlichen hochrangigen Stabsoffizier kamen bei einer Pressekonferenz die Tränen, als er rekapitulierte, was bei rascherem Einsatz eigentlich möglich gewesen wäre, doch letztlich nicht getan werden konnte.

Auch Feuerwehrleute leiden unter ihren Erinnerungen. Die kamen mit ihren Wagen nicht in die engen, verschütteten Straßen der alten Viertel hinein und standen - um sich herum verzweifelte Angehörige und Nachbarn - oft hilflos vor brennenden Häusern und Trümmerfeldern, aus denen man langsam schwindende Stimmen vernahm. Einige haben ihren Beruf aufgegeben, einige sind in Therapie. Man hört von Selbsthaß und anderen komplexen Regungen der Seele. Wie mag es weiter nur jenen zumute sein, die bezüglich des Verbleibes einer Nachbarin meinten, diese sei irgendwo in einer Notunterkunft. Inzwischen hat man sie gefunden: in einer winzigen Nische unter den Trümmern ihres Hauses, laut Obduktionsbefund nach acht Tagen an Hunger gestorben.

In den einkommensschwächeren Vierteln liegt der Schutt nahezu unberührt. Gerade mal die Straßen sind freigeräumt. Den meisten wird das Kapital fehlen, um ihr Häuschen wieder aufzubauen. Gegen Erdbeben war kaum einer versichert, das hielt man nicht für nötig oder für zu teuer im scheinbar sicheren Kansai-Gebiet. Hingegen sind Feuerversicherungen nahezu die Regel. Es gab eine stattliche Zahl von Gebäuden, welche das Erdbeben unversehrt überstanden und erst über zehn Stunden später durch die sich ausbreitenden Brände in Asche aufgingen. Da müßte eigentlich die Versicherung einspringen, glaubten wohl die meisten Besitzer. Doch wer hat schon im vertrauensseligen Japan mit der Lupe das Kleingedruckte gelesen, wo in schillernden Formulierungen derartige Sekundärbrände ausgenommen werden.



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