Wolfgang Michel

Engelbert Kaempfer - eine Näherung


Festvortrag zum 25jährigen Jubliaeum der Engelbert Kaempfer Gesellschaft, Lemgo 6.9.1996

Exzellenz, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde Engelbert Kaempfers,

bitte verzeihen Sie mir, wenn ich Sie mit einer solch schmucklosen Anrede unverzüglich zu jener Person zerre, der zu Ehren vor 25 Jahren hier in Lemgo eine Gesellschaft gegründet wurde.

Dieser Engelbert Kaempfer war kein einfacher Mensch. Auch war sein Leben nicht mit dem Lineal gezogen, sondern führte über viele Kehren, Schleifen und Raststationen von Lemgo bis ins Thule des Ostens, nach Japan, und zurück in die abendländische Heimat. Noch immer sind viele Aufzeichnungen aus nahen und fernen Weltgegenden nur ungenügend ausgeschöpft, setzen sie doch nicht nur das beharrliche Entziffern seiner auf schwankenden Pferderücken, Schiffsdecks, Chirurgenkisten, auf den Knien, aber auch am Kontorpult je nach Stand und Lage zisilierten oder gekritzelten, über-, unter- und durchgestrichenen Textgebilde voraus, die denen Hölderlins wenig nachstehen. Auch verfügt keiner unter den Kaempfer-Forschern über hinreichende Kenntnisse in allen, so wesensverschiedenen Kulturen, die dieser wißbegierige Reisende beobachtete.

Zur geographischen Ferne gesellt sich die zeitliche: denn all das geschah vor mehr als drei Jahrhunderten, so daß dieser Mann auf einen Lemgoer Gymnasiasten des Jahres 1996 nicht weniger exotisch wirken dürfte als auf junge Russen, Iraner, Thais, Indonesier oder Japaner. Eine umfassende Würdigung Kaempfers kann heute wie in Zukunft nur als interdisziplinäres Gemeinschaftsprojekt stattfinden. Um gleich über eigene Beschränkungen zu reden: ein tieferes Verständnis Schwedens, Russlands, Persiens, Indiens oder Siams wird mir wohl leider zeitlebens versagt bleiben. Vergleichsweise sicher fühle ich mich eigentlich nur in Diskursen über meine zweite Heimat, Japan.

Zum meinem Glück darf man - sowohl von der systematischen und umfassenden Konzeption her wie auch im Hinblick auf die Wirkungsgeschichte - Kaempfers Japanwerk mit Fug und Recht als eine seiner großen Lebenleistungen bezeichnen. Dennoch möchte ich Sie anläßlich dieser Feierstunde nicht mit Fachsimpeleien aus dem kulturwissenschaftlich-philologischen Schatzkästlein quälen, sondern lieber, mit dem Schwerpunkt auf Japan, einigen Facetten des Lebens, der Sicht- und Arbeitsweisen Kaempfers nachgehen, um zum Schluß deutlich zu machen, wo er uns trotz aller Ferne noch immer - oder wieder - nahe kommt.

Heute ist Kaempfer für uns als deutscher Japanreisender des 17. Jahrhunderts einmalig. Doch: wie Sie wissen, war er nicht der erste Deutsche, der nach Japan gelangte.

Die während des 16. Jahrhunderts in Japan anlandenden Missionare stammten aus Portugal, Spanien, gelegentlich auch aus Italien, d.h. fast durchweg aus Lateineuropa. Als die niederländische Ostindische Companie - die erste Aktiengesellschaft der europäischen Geschichte - im Jahre 1609 auf der kleinen westjapanischen Insel Hirado eine Handelsniederlassung, eine Faktorei, einrichtete, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die ersten Deutschen auftauchten. Denn durch Holländer alleine konnte man den hohen Bedarf an Personal in Ostasien nicht decken. Irgendwann zwischen 1614 und 1620 kam ein Michael Hohenreither aus Ulm in Japan an. Mitte der zwanziger Jahre verschlägt es den adeligen Christoph Fernberger aus Ybbs an der Donau ins fernöstliche Archipel. Im Tagebuch der niederländischen Handelsniederlassung erwähnt man während jener Jahre gelegentlich "deutsche Steuerleute". Berühmt wurde der Ulmer Wolfgang Braun, der für den Shôgun Mörser goß und diese vor den Augen der Reichsräte und anderer hoher Beamter einschoß. Eines seiner martialischen Geschütze wurde bis Ende des Zweiten Weltkrieges im Tokyoter Yasukuni-Schrein aufbewahrt. Aus dem niederrheinischen Moers kam Karl Peter Hartsingh und machte als Kaufmann der Compagnie in Japan Karriere. Der Leipziger Chirurg Caspar Schamberger lebte 1650 zwei Jahre im Lande, davon zehn Monate in Edo (dem heutigen Tokyo). Seine Therapien und Instruktionen bildeten die Grundlage der sogenannten Caspar-Chirurgie, der ersten japanischen Schule mitteleuropäischer Herkunft. Der Faktoreileiter Zacharias Wagner aus Dresden entdeckte für die Compagnie die vorzüglichen Porzellanderden und die geschickten Keramiker des westjapanischen Dorfes Arita. Seine Bestellung im Jahre 1659 leitete den Ankauf großer Mengen japanischer Porzellane ein, die heute europäische Schlösser und Museen schmücken. Wagners dramatischer Augenzeugenbericht über jenen Großbrand in Edo, der im Jahre 1657 über 100 000 Opfer forderte, wurde durch Arnoldus Montanus in ganz Europa verbreitet. Der Arzt und Kaufmann Andreas Cleyer studierte zusammen mit seinem Untergebenen Georg Meister besonders die Pflanzenwelt Japans und schickte wissenschaftliche Materialien an berühmte Gelehrte in Europa. Meister selbst verfaßte nach seiner Bestallung zum Hofgärtner in Dresden ein außergewöhnlich individualistisches Buch über seine Beobachtungen und Erlebnisse. Wenn es die Zeit erlauben würde, könnte man durchaus noch mehr Namen nennen, und jeden schmückt eigentlich eine lange Geschichte.

Kaempfer war, wie man aus diesen wenigen Andeutungen bereits erkennt, auch nicht der erste Deutsche, der Material in Japan sammelte.

Alles, was den Handel mit Japan und die Beziehungen zur Ostindischen Companie betraf, wurde im Diensttagebuch des Leiters der Faktorei notiert. Dazu zählten selbstverständlich die alljährlichen Reisen an den Hof des Shôgun, die Gespräche mit Reichsräten und anderen wichtigen Persönlichkeiten der politischen Elite sowie die Audienz im gewaltigen Schloß. Bereits 1669, also rund ein halbes Jahrhundert vor dem Druck der Kaempferschen "History of Japan", hatte der Niederländer Montanus anhand von Papieren der Companie einige der wichtigen Reisen zum japanischen Hofe publiziert. Kaempfers Journal seiner zwei Edo-Reisen im fünften Band des Japanbuches, das in dem ansonsten durchweg systematisch-generell angelegten Werk eigentlich wie ein Fremdkörper wirkt, hat hier ihre Wurzeln und Vorbilder.
Private Reisetagebücher vor Kaempfer waren ebenfalls nicht so selten, wie es heute scheinen mag. Manche wurden gar gedruckt. Denn sie befriedigten die Eitelkeit, den Stolz des Autors ebenso wie das Interesse der curieusen Leserschaft an exotischen Begebenheiten aus der bunten, weiten Welt.

Das, was wir heute kennen, ist wohl nur ein kleiner Rest. Wieviele dieser Materialien mögen wohl verschwunden sein? Schiffsunglücke waren nicht selten, aber auch in Europa hatte es mit dem Reisen so seine Bewandnis. Kriege, Brände, interesselose Erben reduzierten die Zahl um ein weiteres. Der vorhin erwähnte Chirurg Caspar Schamberger brachte 1658 ein "Japanisches Reisebuch" ins heimische Leipzig, das noch 1704 von dem Gießener Forscher Michael Bernhard Valentini für ein Buch über Arzneimittel verwendet worden war, danach aber verschwand. Das mit kolorierten Zeichnungen reich gefüllte Reisebuch von Bartolomäus Hoffmann aus Olfen wurde ein Opfer des Zweiten Weltkrieges. Als letzte Spur nur eine bibliographische Notiz. Der weitgereiste Zacharias Wagener war, wie seine Bilder aus Brasilien und Südafrika beweisen, ein begabter Zeichner. Auch in Japan muß er fleißig geschrieben und gezeichnet haben. Doch geblieben ist nur ein Aquarell vom Brand in Edo sowie eine kurze Zusammenfassung seiner Autobiographie. Die in 12 Jahren zusammengetragene Rariätensammlung des Compagnieangestellten Conrad Rätzels aus Halberstadt reichte, wie ein seinerzeit mehrfach nachgedruckter Katalog zeigt, von Muscheln bis hin zu Waffen und japanischen Schränken und war in 48 Klassen geordnet. Nach seinem Tode wurden tausende von Präparaten und Objekten in alle Winde zerstreut. Daß ein großer Teil der Kaempferschen Materialien geschlossen die Zeiten überdauerte, ist daher keineswegs selbstverständlich.

Doch nicht nur Materialien sind verschwunden. Viele der Ostasienreisenden sahen Europa nie wieder.

Zweifellos achtete man bei der Rekrutierung des Compagnie-Personals in niederländischen Hafenstädten nicht allzu sehr auf so etwas wie Menschenrechte. Wer seine Schulden nicht begleichen konnte, mußte auf das nächste Schiff. Waisenhäuser verkauften Kinder, um ihren Etat aufzubessern. Mancher gab im betrunkenen Zustand seine Unterschrift und wachte dann auf hoher See auf. Aber es mangelte auch nicht an Freiwilligen von nah und fern. Die einen waren auf der Flucht vor den Behörden. Andere wurden von Abenteurerlust getrieben. Wer als zweiter oder dritter Sohn geboren war, hatte wenig Aussicht auf ein Erbe. Manchen hatte ein Schicksalsschlag entwurzelt. Was immer auch die Gründe waren, wohl fast alle träumten von den Schätzen des Orients.

Daß Kaempfer völlig frei von wirtschaftlichen Überlegungen und ausschließlich aus wissenschaftlichem Interesse aufbrach, mag ich nicht glauben. Gewiß, die Wanderschaft junger Scholaren und Handwerksgesellen galten vielerorts als Voraussetzung zur weiteren Karriere. Doch bei außereuropäischen Fernreisen reagierte die bürgerliche Gesellschaft durchaus mit Mißtrauen. Als 1706 der vorhin erwähnte Caspar Schamberger nach 50jähriger Tätigkeit als stadtbekannter, frommer Handelsmann und Vater des amtierenden Rektors der Universität in Leipzig starb, rätselten die honorigen Trauernden in ihren Ansprachen noch immer, was den jungen Caspar einst wohl nach Übersee getrieben haben mag. Bilder von Früchten wurden da bemüht, die normalerweise vom Baume fallen, im heimatlichen Erdreich angehen sollten und zu stattlichen Bäumen heranwüchsen. Unbegreiflich und in diesem Punkt fremd war ihnen der heimgekehrte und vielgeehrte Sohn ihrer Stadt geblieben.

Viel zu verlieren hatte Kaempfer offenbar nicht, zudem waren die Zeiten nicht nach seinem Geschmack. Hier und dort erwähnt er den Krieg, im Vorwort seines Japanbuches zeigt er den leeren Geldbeutel öffentlich vor. Sicher wäre auch er gerne in einem etwas edleren Outfit und prallem Geldsäckel nach Lemgo zurückgekehrt. Daß er in Oastasien nicht so wohlhabend wurde wie Hartsingh, Schamberger, Cleyer oder Rätzel, lag wohl an mangelnder geschäftlicher Begabung. Und an der übergroßen Freude, die ihm das Erkunden offensichtlich machte, und über dem Schreiben und Fragen die schnöderen Dinge des Seins immer wieder vergessen ließen.

Doch wie und warum kam Kaempfer nun nach Japan?

Aus der Retrospektive wirkt es so, als ob er zielstrebig bis nach Japan gezogen sei. Dieses Bild wird auch im Titel eines erst kürzlich erschienenen Buches reproduziert.
Japan als fernster Endpunkt einer langen Reise und als Land, über das Kaempfer sein bedeutendstes Werk verfaßte, suggerieren eine solche gerichtete Bewegung von West nach Ost. Reisen pflegen ein Ziel zu haben, das Herumtreiben gilt auch heute nicht als solide Form der Bewegung. Dazu kommen alte europäische Vorstellungen von fernen Inseln der Glückseligen, im 17. Jahrhundert gepaart mit neuen Bildern eines gegenüber der Welt abgeschlossenen Landes, von Audienzen bei einem unsichtbaren Herrscher. Dramaturgisch gibt das einen verlockenden Stoff, und mich wundert es nicht, daß der Herausgeber der englischen Ausgabe, Scheuchzer, der History of Japan noch ein langes Siam-Kapitel hinzufügte und so die Anfahrt streckte.

Indes, verfolgt man Kaempfers Reisen etwas genauer, so erkennt man, daß von Zielgerichtetheit und Planung nur bedingt die Rede sein kann, daß hier vielmehr eine Vielzahl von Ereignissen auf unseren Protagonisten wirkten, die schließlich in einer Ost-West-Bewegung resultierten. Eigentlich hätte er sich in Amsterdam direkt nach Ostasien einschiffen können. Doch das lag ihm offenbar noch zu fern. Die Gesandtschaftsreise zum persischen Hofe bot da wohl ein besser abgesichertes Abenteuer. Als in Isfahan dann die Rückreise anstand, scheute er die (wörtlich) "Kriegsbedingungen" Deutschlands und dachte daran, nach Ägypten zu ziehen. Kurzzeitig war dar auch der Gedanke, eine Leibarztstelle bei einem georgischen Fürsten anzunehmen. Mit der Ankunft einer holländischen Flotte vor der Hafenstadt Bender Abbas im Jahre 1684 aber taucht plötzlich Indien als Vision am östlichen Horizont auf.

Keine Spur von Stolz in den Bittbriefen. Ich habe "daheim keine rechte Habe", schreibt er an den Direktor der Faktorei in Bender Abbas. "Viel Geld habe ich in Akademien verbraucht und nicht weniger auf Reisen. Außerdem ist in meiner Heimat Krieg". In einem Schreiben an den berühmten Botaniker der Companie, Herbert de Jager, heißt es gar, er sei bereit, jede Art von Arbeit zu übernehmen und sei es als Soldat. Doch das war weniger die Bereitschaft zum Heldentod als mehr ein Indiz für seine verzweifelte Lage.

Als ihn die Compagnie im Herbst des folgenden Jahres schließlich auf ein Schiff ließ, dachte er noch immer an (ich zitierte) "die vornehmsten Höfe von Indien und China". Den indischen Subkontinent lernte er in einem winzigen Ausschnitt tatsächlich kennen, China hingegen nie. Im Oktober 1689 erreichte er Batavia, die Metropole des Compagnie-Imperiums. Eine vakante Stelle als erster Arzt und Apotheker im Festungshospital bleibt ihm verwehrt. Wieder setzt das Klagen ein, das wir dennoch nicht mißverstehen dürfen.

Kaempfer war kein ängstlicher Mensch. Die Europäer wurden in den tropischen Breiten entsetzlich dezimiert. Auf solchen Fahrten riskierte man unentwegt sein Leben. Kaempfer war auch nicht entscheidungsschwach. Er begeisterte sich schnell und nutzte neue Chancen unverzüglich. Doch ebenso schnell schlug seine Stimmung um, wenn Schwierigkeiten auftauchten. Dann verlor er den Mut, klagte, hoffte auf Fürsprecher, Förderer - meist vergebens - erduldete, wartete. Die Attacke lag ihm trotz seines Namens nicht.

Das Angebot einer Arztstelle in Japan rettete ihn aus der Patsche und eröffnete zudem vielversprechende Perspektiven. In Süd- und Südostasien waren, wie er inzwischen wußte, viele fähige Forscher mit der Erkundung von Flora und Fauna, von Land und Leuten befaßt. Wenn es wissenschaftlich Neuland zu erschließen gab, dann im seit 1641 nicht mehr frei zugänglichen Japan. Der Posten dort war auch finanziell nicht uninteressant. Falls er hochgestellte Patienten in Nagasaki und Edo kurierte, winkte eine großzügige Entlohnung in Silber und Seidenkimonos. Zudem brachten heimliche private Nebengeschäfte, sprich Schleichhandel, den beteiligten Japanern wie Europäern üppige Gewinne. Der ehemalige Faktoreileiter Cleyer konnte ihm da gewiß mit guten Tips dienen.

Welche Gewichtung man den einzelnen Faktoren auch immer geben mag. Die Fahrt nach Japan war letztlich das Ergebnis von Zufällen, schnellen Entschlüssen, Scheitern anderer Pläne. Doch im Unterschied zu jenen, die mit den Schiffen der Companie aus Europa schnurstracks nach Batavia segelten und von dort aus Japan anliefen, hatte Kaempfer auf seinen langen Fahrten durch Rußland, den Vorderen Orient, durch Indien usw. eine eine stattliche Reihe von Ländern kennengelernt. Sein Blick für die Mannigfaltigkeit menschlicher Kultur und ihrer Bedingungen war geschärft. Er hatte gelernt, beharrlich zu beobachten, zu messen, zu vergleichen, zu beschreiben. Unter all den Japanreisenden des 17. Jahrhunderts war Kaempfer zweifellos am besten vorbereitet.

Kaempfer hatte viel Pech in Bender Abbas und Batavia. In Japan hingegen sandte ihm die Glücksgöttin den jungen Imamura Gen'emon.

Die Identität dieses japanischen Gehilfen wurde zwar erst 1990 anhand einer japanischen Bürgschaftskopie aus Kaempfers Nachlaß wie auch eines Tagebucheintrages des niederländischen Faktoreileiters geklärt. Doch ist Imamura Gen'emon japanischen Historikern mit Ausnahme der Gehilfenstelle bei Kaempfer schon lange ein Begriff gewesen. 1671 als Sohn eines Dolmetschers geboren, durfte er, wie alle Dolmetschersöhne, von früher Kindheit an in der Handelsniederlassung spielen, um sich so in die Sprache und Mentalität der Fremden einzuleben. D.h., als er im Alter von 19 Jahren Kaempfer zugewiesen wurde, sprach er mit Sicherheit ein ganz passables Alltagsholländisch. Der grammatisch angelegte Unterricht Kaempfers jedoch wird diesem klugen Kopf aufregende Einsichten in die Struktur westlicher Sprachen vermittelt haben. Nicht hoch genug einzuschätzen auch dieser zweijährige Umgang mit dem gebildeten, weitgereisten und wißbegierigen europäischen Gelehrten Kaempfer, dessen Arbeits- und Denkweise Imamura nachhaltig beeinflußt haben mußten. Kein holländischer Kaufmann hätte sich so mit seinem japanischen Diener befaßt, und auch unter Kaempfers Vorgängern und Nachfolgern scheint niemand derart engagiert gewesen zu sein. 1695, d.h. drei Jahre nach Kaempfers Abreise, bestand Imamura seine Holländisch-Prüfung und stieg in der Folge Schritt für Schritt in der Dolmetscherhierarchie Deshimas auf. Insgesamt 9 Mal amtierte er als hauptverantwortlicher 'Jahresdolmetscher', und auf 8 Hofreisen dolmetschte er als 'Edodolmetscher' die Gespräche mit der politischen Elite sowie die heiklen Begegnungen mit dem eigenwilligen Shôgun Tsunayoshi. Imamura, der wohl bei Kaempfer auf die wichtige Rolle des Lateins aufmerksam geworden war, lernte später bei einem Niederländer auch diese Sprache. Immerhin so gut, daß er bei den Vernehmungen des heimlich angelandeten Missionars Giovanni Battista Sidotti die Schlüsselrolle spielte. Die Protokolle Imamuras sind ein faszinierendes Dokument interkultureller Begegnung. Unter Historikern recht bekannt auch eine Schrift über europäische Geschütze sowie das erste japanische Buch zur westlichen Reitkunst, das Imamura anhand der Instruktionen des Hamburgers Hans Jürgen Keyserling zusammenstellte. Imamura wurde überaus geschätzt, so daß man sein 1736 eingereichtes, mit einer Erkrankung begründetes Entlassungsgesuch nicht voll akzeptieren mochte. Doch noch im selben Jahr starb er im Alter von 66 Jahren. Professor Katagiri in Tokyo, der mit Abstand beste Kenner der Dolmetscherdynastien Deshimas und Autor eines kleinen Buches über Imamura, veranstaltet allmonatlich einen Studienzirkel, an dem u.a. ein direkter Nachfahre regelmäßig teilnimmt und uns gelegentlich mit Objekten aus dem reichen Nachlaß erfreut.

Ohne den begabten und wißbegierigen jungen Imamura wäre Kaempfers Japanwerk in der heutigen Form nicht vorstellbar. Kaempfer war im Vorwort seines Buches denn auch des Lobes voll. Dennoch mag ich mich nicht mit einer weitverbreiteten Ansicht anfreunden. Daß Kaempfer nämlich Imamuras Name nicht genannt habe, weil er so sehr um dessen Sicherheit besorgt gewesen sei. Ein Blick auf die Fülle der von der British Library gehüteten Aufzeichnungen zeigt, daß Kaempfer und Imamura bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Köpfe zusammensteckten, Texte durchgingen, die übersetzt, erklärt und zusammengefaßt wurden. Vieles davon wurde im Japanbuch überhaupt nicht berücksichtigt und war wohl für weitere Publikationen vorgesehen: zum Beispiel das japanische Glossar, die rudimentäre Grammatik, lange Übersetzungen japanischer Texte von der historischen Erzählungen bis hin zum kleinen Kochbuch. Das Schreiben alleine kostete unzählige Stunden. Und das auf Deshima, wo um ein Dutzend Europäer tagein tagaus eine erdrückende Übermacht japanischer Bedienster herumwuselte, die gehalten waren, alles Verdächtige zu melden. Wer sollte da nicht gewußt haben, was die beiden trieben? Nein, Kaempfer war ein umgänglicher und beliebter Menschen, nicht nur wegen seines Likörs. Er galt sicher als ziemlich neugierig, aber auch als harmlos. Solange es keine niederländisch-japanischen Handelsreibereien oder andere Konflikte gab, pflegte man in solchen Fällen einfach nicht hinzusehen. Was nicht offiziell wurde, war nicht geschehen. Im übrigen wäre es auch nach Kaempfers Abreise ein Leichtes gewesen, seine Zuträger aufzuspüren. Nicht nur Japaner wie Imamura, auch die Europäer waren ja in der Gouvernementsverwaltung mit Namen, Alter, Rang, Ankunft, Abfahrt etc. etc. registriert, und an Druckmitteln hätte es der rabiaten Staatsgewalt im Ernstfall gewiß nicht gefehlt.

Ich glaube eher, daß Kaempfer es ausschloß, daß sein Buch einmal nach Japan gelangen würde. Die Compagnie konnte kein Interesse daran haben, der japanischen Seite den aktuellen westlichen Wissensstand vor Augen zu führen. Nein, Kaempfer sah bei aller Dankbarkeit in Imamura primär seinen Schüler, seinen Assistenten, der ihm zwar bei der Materialisammlung und -erschließung unschätzbare Dienste geleistet hatte, doch im Stadium der geistigen Durchdringung des Stoffes, des Ordnens, der Systematisierung und Formulierung des Japanbuches nahm Kaempfer die Federführung nicht zu Unrecht für sich in Anspruch.

Ein so gutes Verhältnis wie das zwischen Kaempfer und Imamura war keineswegs selbstverständlich. Dies zeigt uns das Beispiel von Willem ten Rhijne.

Ten Rhijne ist noch heute als Vater des Begriffes "Akupunktur" bekannt. Er hatte in sehr jungen Jahren bereits promoviert und wurde kurz darauf, Anfang der 70er Jahre, von der Compagnie speziell für die Niederlassung in Japan eingestellt, weil man in Batavia glaubte, der Shôgun wolle einmal einen studierten Arzt kennenlernen. Ten Rhijnes Dolmetscher waren keineswegs ungebildet. Motoki Shôdayu's Name steht heute in allen Nachschlagewerken zur Geschichte der japanischen Medizin. Iwanaga Soko war ebenfalls ein im Konfuzianismus und in der Heilkunde beschlagener Mann. Man bedrängte den gelehrten Doktor geradezu mit langen Listen von Fragen. Doch ten Rhijne verstand nicht oder wollte nicht verstehen, hielt dies alles für wirr, primitiv, für eine Verschwendung seiner kostbaren Zeit. Als er sich seinerseits dann einen chinesischen Text zur Akupunktur erklären ließ und Verständnisprobleme auftraten, bemängelte er die unzureichenden Holländischkenntnisse Motokis und Iwanagas. Sprachunterricht, wie Kaempfer ihn gab, kam ihm nie in den Sinn. Lieber füllte er die Büroregale der Compagnie mit Klagen über mangelnde Anerkennung und Ehrerbietigkeit. Und so erbrachte die Begegnung dieser an sich klugen Köpfe für beide Seiten zwar die eine und andere Erkenntnis, doch bei weitem nicht jenen Gewinn, den Kaempfer und Imamura einfuhren.

Wir machen einen großen Sprung und kehren mit Kaempfer nach Europa zurück.

Natürlich gab es für die Unzufriedenheit während der ihm verbliebenen Lebensjahre handfeste Gründe: das lästige Amt des Leibarztes, die ausbleibenden Ehrungen, die Eheprobleme. Dennoch vermute ich, daß Kaempfer auch ohndies gewisse Schwierigkeiten gehabt hätte. Zuviel hatte er erlebt und gesehen. Die Gewohnheiten, Sitten, Konventionen, die er einst ohne großes Nachdenken befolgt hatte, fielen nach der Heimkehr scharf ins Auge. Viele gesellschaftliche Strukturen waren nun keineswegs mehr natürlich und absolut. Wahrscheinlich fing er immer wieder an zu vergleichen, zu relativieren. Doch wer aus seiner Umgebung konnte und mochte ihm darin Gesellschaft leisten? Zudem ließen ihn die fernen Welten nicht mehr los.

Vielleicht war es auch ein wenig von Vorteil, daß ihn die Heimat nicht mehr mit Haut und Haaren verschlang. Denn das half ihm, jene erstaunliche Unabhängigkeit zu wahren, die seine Beurteilung fremder Länder auszeichnet.

Nach den anfänglich erbauenden, später anklagenden Sendschreiben und Historias der Jesuitenmission des 16. Jahrhunderts, nach den abenteuerlichen und bunten Reisetagebüchern sowie einigen Ansätzen zu einer generellen Landeskunde um die Mitte des 17. Jahrhunderts, entstand an Kaempfers Schreibpult ein Japanbuch, das in Umfang und Aufbau alles bisherige übertraf. Es sollte brandaktuell sein. Das Manuskript in London trägt den Titel "Das Heutige Japan". Er schrieb es auf deutsch für das allgemeine Publikum und wollte gewiß auch unterhalten. Die knorrige Sprache seines Manuskriptes beschwört etwas altertümliche, aber kraftvolle Bilder, und gelegentlich kommt man dramaturgischen Arrangements auf die Spur, die ein wenig von der historischen Reihenfolge abweichen. Doch im Gegensatz zu den Ostindienreisenden vor ihm nimmt er sich auf weiten Strecken zurück, verschwindet geradezu als Autor. Auch setzt er sich und seine europäische Kultur nicht zum universellen Maßstab aller Dinge.

Die Angst vorm dem allzu häufigen Baden wollen wir ihm heute abend verzeihen, bezeichnete er doch die Japaner in diesem Punkt als "superstiteus reinlich" während er den Europäern das Attribut "sinnlich" verlieh. Doch von solchen, heute kuriosen Ausrutschern abgesehen, bemüht er sich unablässig um Nüchternheit.
Selbst auf dem heiklen Felde der Religion, wo der christliche Absolutheitsanspruch keine anderen Götter duldete, bringt er es zu erstaunlich ruhigen Beschreibungen. Es gibt sogar etwas zu lernen von den Japanern, zum Beispiel auf dem Felde der Medizin, die mit Akupunktur und Moxibustion der westlichen Chirurgie an Sanftheit weit überlegen sei. Auch bei der Beurteilung der japanischen Abschlußpolitik, die in Europa ja nicht nur von Katholiken kritisiert wurde, stellt er sich gegen den Wind, führt sicherheitspolitische Argumente an und betont das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker. Daß derartige Fanfarenstöße Scharen neuer Freunde in den Steinhof locken würden, konnte er nicht erwarten. Noch sein Herausgeber Dohm verlor bei solchen Thesen die Contenance.

Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß es bereits ein wenig deutlich wurde. Charakterliche Disposition und reiche Erfahrungen haben Kaempfer zu einem Menschen heranreifen lassen, von dem wir auch heute noch einiges lernen könnten. Zum Beispiel Offenheit für das Neue, das Fremde. Beharrlichkeit in den Bemühungen, Andere zu verstehen. Zurücknahme und Relativierung der gewohnten Maßstäbe. Das Heraustreten aus dem eigenen, engen Rahmen. Die Souveränität, Dinge auch mit der Brille des Partners zu betrachten. Ein Horizont, der fernste Gesellschaften umschließt.

Wie viel mehr sind solche Tugenden, Fähigkeiten, Einstellungen an der Wende zum 21. Jahrhundert vonnöten?! Auch wir leben in einer zerissenen Zeit, in der die schnurgeraden Lebenswege rarer werden. In einer Zeit, in der die Welt unaufhaltsam schrumpft. In der durch neue Verkehrsmittel und Medien der Raum verschwindet, Nähe und Ferne zusammenfallen. In der die Lage im Nahen wie Fernen Osten und anderswo infolge mannigfaltiger Inderdependenzen auch uns unmittelbar berührt. In der weltweite Fluktuationen den einzelnen Menschen hin und her werfen. In der die Begegnung mit Fremdem alltäglich geworden ist. In der das friedliche Zusammenleben der Völker zur Existenzfrage der menschlichen Gattung wird. In der es offenbar nicht genügt, bloß auf jene vermeintliche List der Vernunft zu hoffen, die Not werde uns alle auch ohne unser Zutun schon irgendwann unaufhaltsam zur globalen Harmonie zwingen.

Die Engelbert Kaempfer Gesellschaft, die nunmehr mit Stolz auf ein Vierteljahrhundert zurückblicken kann, hat in dieser Zeit Großes geleistet - Vorträge, Symposien, wissenschaftliche Publikationen - und auch für die Zukunft beeindruckende Pläne. Sie war zugleich nie eine Vereinigung zur lediglich musealen Pflege eines patinierten Erbes, sondern im Geiste Kaempfers stets um das Schlagen und den Ausbau neuer Brücken in der Gegenwart bemüht, wie es die Anwesenheit zahlreicher, von weither gekommener Gäste ebenso wie die Grußworte aufs Neue belegen. Möge der Reisende, der Forscher, der Mensch Engelbert Kaempfer dieser Gesellschaft und uns allen auch künftig zum Ansporn, zum Vorbild dienen.

Herzlichen Dank und Glückwunsch für das bisher Geleistete und zum Jubliäum und alle guten Wünsche für das künftige Gedeihen der Engelbert-Kaempfer-Gesellschaft.

 

 

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