Wolfgang Michel: Medizin, Heilmittel und Pflanzenkunde im euro-japanischen Kulturaustausch des 17. Jahrhunderts. In: Hōrin - Vergleichende Studien zur japanischen Kultur, No. 16, 2010, pp. 19 -34.
Due to encoding problems some features haven been modified. A pdf file of the published version is available at Kyushu University Institutional Repository (QIR).
Flier

 

Medizin, Heilmittel und Pflanzenkunde im euro-japanischen Kulturaustausch des 17. Jahrhunderts


Wolfgang Michel

Das 17. Jahrhundert in der japanischen Medizingeschichte

Wie überall gibt es auch in der japanischen Geschichtsschreibung Sichtweisen, die sich ungeachtet ihrer schwachen Fundierung erstaunlich lange halten. So zum Beispiel, wenn es um die Reaktion auf westliche Impulse in Wissenschaft und Technik geht. Stichworte wie ‘Hollandkunde’ (rangaku 蘭学) oder ‘Westkunde’ (yōgaku 洋学) fallen schnell, als unverrückbar gelten auch die zeitliche Einordnung, die Höhepunkte und Protagonisten. Das 17. Jahrhundert kommt dabei als Zeit, in der sich Japans Blick nach innen richtete, gewöhnlich schlecht weg[1]. Nach wie vor leistet das Konzept des ‘Landesabschlusses’ (sakoku 鎖国) gute Dienste, obwohl seit den 1990er Jahren das Bild eines von der Welt isolierten Inselreichs immer stärker in Frage gestellt wird und in jüngster Zeit A. Ōshima[2] die Geburt dieses Diskurses der Moderne eindrucksvoll aufdeckte. Wenn es um Medizin geht, sollte man zudem den Einfluss von Sugita Gempaku (1733-1817) nicht übersehen, der in den berühmten Altersmemoiren „Beginn der Hollandkunde‟ (Rangaku koto hajime[3]) seine Zeit zur Wiege der Neuerung und alles, was davor geleistet worden war, zum wenig bedeutsamen Präludium stilisierte[4]. Dass diese Schrift durch den Bannerträger der Modernisierung, Fukuzawa Yukichi, propagiert wurde, trug zu ihrer Kanonisierung erheblich bei. Um so mehr, als er 1890 anläßlich der ersten Vollversammlung der Japanischen Gesellschaft für Medizin (Nihon igakkai sōkai 日本医学会総会) eine zweite Ausgabe herausgab, in deren Vorwort er Tränen der Rührung über die Mühen der Pioniere vergoss[5]. ‘Hollandkunde’ beginnt seither nach allgemeinem Konsens mit der Lockerung des Importverbots westlicher Bücher, der Förderung des Studiums der niederländischen Sprache und dem Aufbau einer einheimischen Produktion an bestimmten Kräuterdrogen während der Herrschaft des achten Shōgun Tokugawa Yoshimune (1684-1751). Doch auch in der Geschichte der ‘Westkunde’ , die jünger und in ihrer Terminologie weniger belastet ist, folgt man dem von Sugita eingeleiteten Diskurs, sobald es um Heilkunde und anverwandte Disziplinen geht[6].

Dies hielt japanische Medizinhistoriker der ersten Generationen nicht davon ab, auch die vorgeblich ereignisarme Frühzeit medizinischer Ost-West-Interaktionen zu studieren. Ihnen verdanken wir wichtige Beiträge zu Dolmetschern wie Nishi Gempo, Narabayashi Chinzan, Motoki Shōdayu Ryōi und zu Ärzten wie Kawaguchi Ryōan oder Arashiyama Hoan[7], die medizinische Schriften hinterließen, welche von den nachkommenden Generationen teils bis ins 19. Jahrhundert genutzt wurden. Allerdings war diesen Forschern, wie man inzwischen weiß, lange Zeit nur ein Bruchteil existierenden Quellen (Manuskripte, Manuskriptkopien) bekannt, zudem nutzten nur wenige die für ein Gesamtbild unerlässlichen Materialien der niederländischen Ostindischen Compagnie.

Nachfolgend wird auf der Grundlage jüngerer Untersuchungen nachgezeichnet, wie es nach hundert Jahren eurojapanischer Kulturkontakte um die Mitte des 17. Jahrhunderts zu einer nachhaltigen Beschäftigung mit westlicher Medizin kam, und welche Auswirkungen das wiederum auf benachbarte Disziplinen wie Pharmazeutik und Botanik mit sich brachte.

 

Flexibilität und Interesse

Die Bedingungen für die Rezeption neuen Wissens im 17. Jahrhundert waren durchaus günstig. Japan war keineswegs ein in xenophoben Reflexen verfangenes Land, das von der Welt nichts mehr wissen wollte. Seit dem 14. und 15. Jahrhundert hatten sich dank ausländischer, vorwiegend chinesischer Impulse technische Verbesserungen in der Seidenweberei, Schmelztechnik, Waffenkunde und im Schiffsbau verbreitet. Da die Träger dieser Neuerungen nunmehr vorwiegend der Schicht der Handwerker und Kaufleute angehörten, konzentrierte man sich auf die Praktikabilität, während theoretische Implikationen nicht wahrgenommen oder ausgespart wurden[8]. Eine ähnliche Haltung beobachten wir später in der Rezeption westlicher Medizin durch japanische Ärzte des 16. und 17. Jahrhunderts. Die geistige Beweglichkeit Japans war zugleich eine Folge der gewaltsamen Flexibilisierung der Gesellschaft im ‘Zeitalter der streitenden Reiche’ (sengoku jidai 戦国時代). Überdies führten die Anknüpfung des Landes an das globale Netz der Europäer und der aufkommende japanische Fernhandel zu einer Fülle neuer Objekte, Informationen und Begegnungen. Dies wurde auch für Japan ein Zeitalter der Entdeckungen[9]. Nicht zu vergessen die zunehmend intensivere Beschäftigung mit dem Neokonfuzianismus des Zhuzi, die durch das junge Tokugawa-Regime gefördert wurde und im Lande das Aufkommen kritischer Entwürfe auslöste.

Zweifelsohne suchten die Tokugawa die Bewegungen der Menschen, den Fluss der Güter und Informationen unter ihre Kontrolle zu bringen und Unliebsames auszumerzen, doch waren dem konkrete Grenzen gesetzt. Japan hing von Importgütern wie Seidenstoffen, Rohseide, Bauwollstoffen, chinesischen Arzneimitteln[10], Quecksilber usw. ab, und europäische Wissenschaft und Technik blieben auch nach der Ausweisung der ‘Südbarbaren#8217; (nambanjin 南蛮人) willkommen, sofern es dem System nutzte. Von einem generellen Verbot westlicher Bücher, wie nicht wenige Autoren glauben, konnte nicht die Rede sein. Es galt christlichem Gedankengut - gleich welcher Sprache. Ansonsten kümmerte sich die Zensur kaum um Inhalte. Die Einfuhr pharmazeutischer, chirurgischer und nautischer Werke aus Europa wurde schon 1641 explizit akzeptiert[11]. Mehr noch, die anhaltende Beschäftigung mit westlicher Medizin setzte just in jener Dekade ein, in der die sogenannte ‘Abschlusspolitik’ ihre Vollendung erlebte (sakoku kansei 鎖国完成).

 

Verlegung der Handelsniederlassung nach Nagasaki

Bei dieser Hinwendung zur Heilkunst der Europäer spielte das Bestreben der Entscheidungsträger in Edo, die Lage im Lande zu stabilisieren und zu verbessern, eine gewisse Rolle. Doch stehen hinter dem aufkommenden Interesse einige wichtige Ereignisse. Als die bislang in Hirado agierenden Kaufleute der niederländischen Verenigden Oostindischen Compagnie (VOC) 1640 ihre Niederlassung nach Nagasaki verlegen musste, hielt es das Generalgouvernement in Batavia für geboten, eine permanente Chirurgenposition einzurichten. Nach nahezu einem Jahrhundert euro-japanischer Kontakte waren damit erstmals die Bedingungen für kontinuierliche Begegnungen japanischen und europäischer Mediziner geschaffen. Überdies stand die Compagnie in der reichsunmittelbaren Domäne Nagasaki nun unter der direkten Kontrolle der Zentralregierung. Anders als in Hirado, wo Aufsicht und Betreuung dem regionalen Fürstenhaus Matsura oblagen, überwachten hier von der Regierung eingesetzte Gouverneure (Nagasaki bugyō 長崎奉行) wie auch der in Edo residierende Großinspekteur (ōmetsuke 大目付) den Wandel und Handel der ‘Rotschöpfe’ (kōmōjin 紅毛人). Das vertiefte die Kenntnisse am Hof um westliche Wissenschaft und Technik erheblich. Besonders die Artillerie hatte es den Machthabern angetan. Seit dem Aufstand der überwiegend christlichen Landvölkerung im Raum Amakusa / Shimabara (1637/38) wusste man, dass herkömmliche Kanonen im Festungskampf wenig ausrichteten[12]. Für den indirekten Beschuss verschanzter Gegner benötigte man Mörser und entsprechende Kenntnisse in Messtechnik und Mathematik. Die Begeisterung in Batavia hinsichtlich eines solchen waffenkundlichen Transfers hielt sich in Grenzen. Bitten um Arzneimittel und Therapien hingegen waren willkommen, denn hier konnte man zum persönlichen Wohlbefinden hoher Herren beitragen, was ein besseres Umfeld für den Handel versprach. Nach 1641 nahm der Chirurg der Handelsstation an der jährlichen Reise nach Edo teil, wo sein Vorgesetzter anstehende Probleme besprach und in einer Reverenzerweisung die Dankbarkeit der Compagnie zum Ausdruck brachte. Vor und nach dieser Zeremonie gab es im Antichambre Gelegenheit zur Plauderei. Im Laufe der 1640er Jahre verzeichnen die niederländischen Diensttagebücher gelegentliche Gespräche über Heilmittel, auch Bestellungen bzw. Lieferungen von Bezoarsteinen, ja sogar von Mumienteilen, die seinerzeit in Europa als kostbares Heilmittel galten und nun auch in Edo Liebhaber fanden[13].

 

Zufällige Ereignisse

Dennoch, ohne einige Zwischenfälle, die mit Wissenschaft und Technik nichts zu tun haben, wäre es wohl noch lange bei solch sporadischen Begegnungen und Lieferungen geblieben. 1643 landete dann das VOC-Schiff Bresken auf dem Rückweg von einer Expedition in den hohen Norden bei Nambu an, um Wasser und Proviant aufzunehmen. Das war strikt verboten, und eigentlich hatte sich die Compagnie verpflichtet, diese Auflage einzuhalten. Entsprechend heftig reagierte man in Edo. Drei Jahre danach schlossen die Niederländer, bislang zum Wohlgefallen der Tokugawa erklärte Feinde der Portugiesen, einen zehnjährigen Friedensvertrag mit Portugal. Als 1647 eine portugiesische Gesandtschaft in der Bucht von Nagasaki auftauchte, der man in Batavia gar Hilfe geleistet hatte, war das Fass voll. Im Frühjahr wurden die Geschenke des Faktoreileiters abgelehnt und die Audienz abgesagt. Im folgenden Jahr fiel die Hofreise ganz aus. Spätestens jetzt wußte man in Batavia, dass besondere Anstrengungen nötig waren, um die Wogen zu glätten. Eigentlich fehlte es dem Schulrektor Dr. Pieter Blockhof, der 1649 während der Überfahrt nach Japan verstarb, und mehr noch seinem Stellvertreter Andries Friese (Frisius) am gebotenen gesellschaftlichem Rang für eine offizielle Gesandtschaft, doch hatte die Compagnie den lang erwarteten Mörserspezialisten samt Mörsern und Zubehör sowie zahlreiche kostbare Geschenke zu bieten, dazu eine Reisegruppe, die bis in die Kleidung dem Bild einer diplomatischen Embassade entsprach und so das Prestige der Tokugawa im Volke anheben würde[14]. Nach einer angemessenen Wartezeit und ausgedehnten Verhandlungen war man daher in Edo durchaus bereit, die Sache beizulegen.

Doch hier nahm der Lauf der Dinge wiederum durch einen Zufall eine neue Wende. Der Shōgun Iemitsu erkrankte so sehr, dass er weder an der  für ihn vorgesehenen Mörserdemonstration noch an der zum Abschluss der Verhandlungen unabdingbaren Audienz teilnehmen konnte. Ein ums andere Mal wurden daher die Termine verschoben. Im Tross des Gesandten finden wir den Leipziger Chirurgen Caspar Schamberger (1623-1706), der wegen seiner Erfahrungen eigens für diese Mission ausgewählt worden war und nun wie alle untätig in der Herberge ausharren musste[15].

 

Individueller Weitblick

Im Laufe dieser Wochen des Verhandelns und Wartens tritt im Tagebuch des Faktoreileiters der Großinspekteur Inoue Masashige (1585-1661) immer deutlicher in den Vordergrund[16]. Er stand seit 1608 im Dienste der Tokugawa, seit 1625 als Inspekteur (metsuke 目付), und erhielt 1627 den Ehrentitel „Bewahrer von Chikugo” (Chikugo-no-kami 筑後守). Seit 1632 wachte Inoue als Großinspekteur (ōmetsuke 大目付[17]) über die Ruhe im Lande. Er war maßgeblich an der Zerschlagung des Aufstandes in Shimabara beteiligt, was ihm 1640 zusätzlich das neue Amt für Religionskontrolle (shūmon aratame yaku 宗門改役) eintrug. Im selben Jahr eilte er nach Nagasaki, wo die lokale Wirtschaft nach der Ausweisung der Portugiesen zusammengebrochen war, und setzte zusammen mit den beiden Gouverneuren den Umzug der niederländischen Faktorei Hirado durch. Wann immer etwas mit der Compagnie abzugleichen war, trat Inoue auf. Dass er Christen nachschnüffeln und foltern ließ, dass er ‘gefallene’ Pater wie Christovão Ferreira in Brot hielt, zugleich mit den Niederländern engen Umgang pflegte und exotische Raritäten anhäufte, wirkte aufs Volk befremdlich, wie ein von Beamten notiertes Wandgekritzel aus dem Jahre 1651 verrät: „Sieht aus wie ein Japaner, Freund der Südbarbaren, unberechenbar, der Christen-Gouverneur Inoue, Bewahrer von Chikugo”[18]. Der Spazierstock mit zwei Gewehrläufen von insgesamt neun Schuss, den er 1652 bei der Compagnie bestellte, war wohl nicht nur zur Zierde gedacht[19].

Inoue wußte westliches Know How zu schätzen und hatte als Vermittler zwischen den Reichsräten und der Compagnie eine Schlüsselposition inne. Nachdem er sich von den Fähigkeiten Caspar Schambergers persönlich überzeugt hatte, schickte er ihn zu hochgestellten Persönlichkeiten, ließ die Erklärungen zu den Heilmittelgeschenken der Gesandtschaft aufzeichnen und, er litt an diversen Altersbeschwerden, seinen Leibarzt ausgiebig instruieren – mit sichtbarem Erfolg. Denn als im April 1650 die niederländische Gesandtschaft zur Heimreise aufbrach, mussten auf Anforderung des japanischen ‘Kaisers’ der Mörserkanonier Jurian Schedel, dessen Gehilfe Jan Smit, der Chirurg Schamberger sowie - als Vertreter der Compagnie - der Kaufmann Willem Bijlevelt in Edo zurückbleiben, um mit ihrem Wissen zu Diensten zu sein. Mit insgesamt zehn Monaten verbrachten sie mehr Zeit in Edo als alle Ausländer der folgenden zwei Jahrhunderte.

Es ist diese einmalige Kombination von Zeitpunkt, Ort, Personen und zufälligen Ereignissen, welche ein nachhaltiges Interesse an der Heilkunst der Rotschöpfe auslöste. Die Initiative ging von japanischer Seite aus, nicht von Ärzten, sondern von hochrangigen, meist älteren Patienten in Edo. An ihrer Spitze stand mit dem Großinspekteur ein Mann, der die Europäer von Amts wegen studiert hatte, ihre Religion, Wissenschaft, Technik kannte wie wohl kein zweiter Japaner seiner Zeit. Sein Interesse an westliche Arzneien wurde stadtbekannt: „Heutzutage gibt es Mumie, Bezoar, Einhorn - die vergeblichen Wundermittel der Exzellenz Inoue”[20]. Ob die wirklich vergeblich waren, oder aber Schambergers Künste die der einheimischen Ärzte übertrafen, lässt sich auf der medizinischen Ebene nicht überprüfen. Zumindest hatte er bei den Patienten einen guten Eindruck hinterlassen, und deren soziale Stellung trug in der Folge erheblich zur Verbreitung der neuen ‚Chirurgie im Stile der Rotschöpfe' (kōmōryū geka 紅毛流外科) bei.

 


Fachmännische Vertiefung

Die Bezeichnung ‘Holland-Dolmetscher’ (oranda tsūji 阿蘭陀通詞, auch 阿蘭陀通事) bedeutete in jener Zeit nur, dass man den Holländern als Sprachmittler diente. Wie fast alle seiner Kollegen kam Schambergers Dolmetscher Inomata Dembei[21] im Niederländischen über Alltagskonversation kaum hinaus, verfügte aber über gute Kenntnisse in der portugiesischen Sprache, der lingua franca der eurasiatischen Kommunikation. Von Medizin verstand er nichts, so dass sein im Herbst 1650 verfasster Bericht die Namen der meisten Kräuter, Pflaster, Öle, Salben, der Geschwülste und Geschwüre in Silbenzeichen lautlich nachbildet, aber nicht erklärt. Diese Schrift wurde zum Ausgangspunkt der sogenannten Caspar-Chirurgie. Sie umfasst einen Abriss der griechisch-galenischen Humoralpathologie, eine vergleichsweise systematische Beschreibungen von Geschwulsten (shumotsu 腫物), weiter Pflaster-, Salben- und Heilöl-Rezepte sowie Grundzüge der Wundchirurgie. Damit bleibt sie, was zu erwarten war, im Rahmen der sogenannten Kleinen Chirurgie (chirurgica minor) europäischer Chirurgen-Gilden. Es fehlen allerdings Maßnahmen wie der Starstich, Aderlass, die Wundkauterisierung usw., die im Westen zum Alltag des Geschäfts zählten. Mehr noch, von der an den Universitäten und in den Gilden als grundlegend und unverzichtbar erachteten Anatomie findet sich kaum eine Spur. Dies blieb auch unter den Nachfolgern Schambergers für geraume Zeit so. Man ist versucht, die Beschränkung der Rezeption mit Sprach- und Verständnisschwierigkeiten oder mit der Unvereinbarkeit der Pathologien in Ost und West zu erklären, doch die Gründe sind zumindest für die frühen Jahre vergleichsweise simpel. Im Jahr 1650 waren nicht japanische Ärzte aus eigenem Antrieb aufgebrochen, um von Zweifeln an der Tradition getrieben, eine neue Sicht auf Natur und Mensch zu wagen. Die Inititative ging von mächtigen Patienten aus, die in kurzer Zeit Hilfe für ihre Leiden erwarteten. Im Mittelpunkt stand die Lösung konkreter Fälle, alles andere fiel schon aus zeitlichen Gründen unter den Tisch.

Noch als Schamberger in Edo weilte, wurden Bücher und Heilmittel aus Nagasaki angefordert. Eine weitere gewaltige Bestellung für den Kaiser, Reichsräte und Landesfürsten registrierte der Faktoreileiter im Frühjahr 1652[22]. Bis ins 19. Jahrhundert finden sich fortan in den Fakturen der nach Japan auslaufenden niederländischen Schiffe Arzneien, Fachbücher und Instrumente für japanische Herren. Wann immer ein Faktoreichirurg in Edo erscheint, stehen Patientenbesuche, Befragungen durch einheimische Ärzte und Instruktionen an[23].

Bei Brüchen, Luxationen, Stoß-, Stich- und Schnittwunden hatten Inomata und die Dolmetscher nach ihm kaum terminologische Schwierigkeiten. Die Behandlung von Schusswunden wurde zwar weiterhin studiert, doch kam dieser Wundtyp in der Praxis japanischer Ärzte nach der Befriedung des Landes nicht mehr vor. Um Geschwüre und Geschwulste zu therapieren, musste man jedoch rasch solch unverständliche Bezeichnungen wie aposutemu (Apostem), abusesu (Abcess), kankorō (portug. cancro, Krebs) verstehen lernen. Das setzte lange Dialoge zwischen japanischen Ärzten und Faktoreichirurgen voraus, wozu die Dolmetscher in Edo kaum Zeit hatten.

1656 fand Inoue einen anderen Weg. Ein Memorandum mit Anweisungen und Fragen ging über den Nagasaki-Gouverneur an Mukai Genshō ( 1606-1677), einem auch in Edo geschätzten Konfuzianer und Arzt in Nagasaki, der gerade dabei war, ein Manuskript zur Astrononomie aus der Feder des ehemaligen Jesuiten Cristavão Ferreira (Sawano Chūan) für Inoue in eine lesbare Form zu bringen[24]. Auf Verlangen des Gouverneurs sorgte der Faktoreileiter dafür, das Mukai über Monate hinweg den Faktoreichirurgen Hans Hancke befragen konnte, wobei ihm sämtliche Dolmetscher der Faktorei assistieren mussten[25]. Damit war ein Präzedenzfall gesetzt. Andere einflussreiche Herren entsandten ihre Leibärzte zur Fortbildung nach Nagasaki. In den sechziger und siebziger Jahren ließen sich einige darunter die Mühen durch den Faktoreichirurgen bescheinigen. Diese Zeugnisse mit dem durch die Dolmetscher unterzeichneten japanischen Anhang verdeutlichen, wie rasch die Chirurgie der Rotschöpfe an Ansehen gewonnen hatte, und dass damit eine Karriere möglich war[26].

Mukai Genshō war der erste japanische Arzt von Rang, der sich den Instruktionen des Faktoreichirurgen fachlich stellte. Er kannte die einschlägige chinesische Literatur wie das von Cheng Shigong 1617 publizierte Waike zhengzong (jap. Geka seisō[27]) mit seiner ausdifferenzierten Geschwulstlehre, ‘identifizierte’ auf dieser Grundlage die von Hancke beschriebenen Geschwüre und fügte der tradtionellen chinesischen Beschreibung ihrer Eigenschaften die Therapien Hanckes hinzu. Unter Umgehung der Inkompatibilitäten westlicher und chinesischer Pathologie wurde so der westliche Krebs mit dem sinojapanischen gan[28] korreliert, und in den meisten Fällen blieb es bei Mukais Nomenklatur, auch nachdem man im 18. und 19. Jahrhundert gelernt hatte, niederländische Fachwerke eigenständig zu verarbeiten.

 

Knappe Ressourcen

Schon bald nach Schambergers Abreise versuchte man, die in den Rezepten aufgezählten Kräuter und Drogen zu bestimmen. Hierzu wurde ein Kräuterbuch bestellt. Die Compagnie lieferte das ‘Kruyt-boek’ von Rembert Dodoens (Dodonaeus), in seiner Informationsfülle wohl die beste Wahl jener Zeit[29]. Doch die kruden Holzschnitte taugten kaum zur Bestimmung japanischer Pflanzen, was einer der Besteller, der spätere Reichsrat Inaba Masanori und vordem Patient Schambergers, scharf monierte[30]. Man tat einiges, um die vorhandenen Arzneimittelressourcen zu erschließen. Mukai Genshō zog 1657 mit dem Chirurgen Hancke durch die Arzneihandlungen der Stadt Nagasaki, was eine eine erkleckliche Liste von nutzbaren Mitteln erbrachte[31]. Bei Exkursionen in die Pflanzenwelt der nahegelegenen Berge hingegen waren die Chirurgen in der Regel überfordert, denn Kräuterkunde gehörte nicht zu ihrer Ausbildung.

Im Laufe sechziger Jahre verschlechterte sich die binnenwirtschaftliche Lage dramatisch, und die Regierung kam nicht umhin, den Luxuskonsum einzuschränken und die Importe nach Möglichkeit zu reduzieren. Dies machte eine Versorgung mit preiswerten Heilmitteln dringlicher denn je zuvor. Nach Hancke hatten Chirurgen wie Steven de la Tombe, Herman Katz, Daniel Bosch und Arnoudt Dircksz. auf Dejima und in Edo Instruktionen erteilt, Zeugnisse ausgestellt und genügend Einfluss ausgeübt, dass ihre Namen in japanische Handschriften eingingen[32].

1667 wurde dann bei einem Treffen der beiden Nagasaki-Gouverneure mit dem alten und dem neuen Faktoreileiter im Namen des Kaisers eine erfahrene Person angefordert, um aus „allerhand grünen medizinischen Kräutern Extrakte, Öle und Wasser (= Alkohol) zu ziehen„, nebst den „dazu nötigen Instrumenten”. Dazu junge Setzlinge, weil ins Land gebrachte Samen bislang nicht aufgegangen waren. Man betonte die Wichtigkeit der Anforderung, die man dem Generalgouverneur in Batavia übermitteln solle[33].

Dass der zeitlebens kränkelnde Shōgun Ietsuna (1641-1680) an Heilkunde interessiert war, steht außer Frage. Hier ging es jedoch weniger um dessen Wohlbefinden als um den Aufbau eines einheimischen Produktionszyklus' vom Rohstoff bis zum Heilöl. Eine solche Entscheidung überstieg die Kompetenzen der Nagasaki-Gouverneure bei weitem. Sie war im Reichsrat gefallen, und hier finden wir seit 1657 den oben genannten Inaba Masanori, der sich seit seiner Begegnung mit Schamberger durch Bestellungen, Entsendung von Leibärzten usw. als Freund westlicher Medizin und Technik ähnlich hervortat wie der 1661 verstorbene Großinspekteur Inoue Masashige.

Die von den Gouverneuren übermittelte Forderung ist für die Geschichte der ‚Hollandkunde' von höchster Bedeutung. Viele Dekaden vor der bislang als Wende etablierten Kräuterpolitik des Shōgun Yoshimune wurde unter Ietsuna ein nahezu identisches Projekt vorangetrieben. Die Ostindische Compagnie schickte insgesamt drei Spezialisten ins Land. Zunächst traf der deutsche Apotheker Gottfried Haeck ein, dessen Unerfahrenheit zu recht kritisiert wurde[34]. Sein Nachfolger und Landsmann, der Apotheker Franz Braun brachte die aus Europa bestellte Destillationsanlage nach Japan. Sie wurde in einer auf Kosten des Shōgun errichteten Hütte installiert. Schon nach wenigen Monaten waren die von Braun 1672 instruierten Schüler in der Lage, ohne Hilfe eine Reihe von Heilölen zu destillieren. In diesen Jahren wurde ein Exemplar des „Hortus Eystettensis” an Inaba geschickt, ein prächtiger Folioband über die Pflanzen im Garten des Fürstbischofs von Eichstätt mit vorzüglichen Illustrationen[35].

Die Kultivierung der importierten Pflanzen im „Garten des Kaisers” in Nagasaki verlief weniger glücklich – sei es aus Unerfahrenheit der japanischen Gärtner, sei es als Folge der ungünstigen klimatischen Bedingungen. Die Enttäuschung in Edo wuchs um so mehr, als deutlich wurde, dass die Compagnie wohl keine Setzlinge von Gewürzdrogen wie Nelken, Zimt und Muskat liefern würde. Zwar hatte man sich die Destillationstechniken angeeignet, hing aber in der Versorgung mit Rohstoffen nach wie vor von Importen ab. Die Begeisterung ließ deutlich nach. 1674 traf Dr. Willem ten Rhijne ein, der wohl beste Mediziner, der in jenem Jahrhundert japanischen Boden betrat, eigens für diese Mission eingestellt und ausgebildet. Er wurde zwar geachtet und konsultiert, doch bei weitem nicht mit jenem Enthusiasmus, den man in Batavia erwartet hatte[36]. Die Destillationen auf Dejima wurden zwar fortgesetzt, doch hatte man den großen Entwurf von 1667 offenbar aufgegeben. Mit dem Tode von Ietsuna verschwand dann auch der Reichsrat Inaba Masanori von der politischen Bühne, die binnen- und außenwirtschaftlichen Koordinaten wurden neu justiert.

 


Pflanzenkunde als Feld gemeinsamer Interessen

Dennoch hatten die Jahre um 1670 anhaltende Folgen. Mit der Verbreitung westlicher Rezepte und der Einfuhr der dazu nötigen Kräuter und Drogen kam der Gedanke auf, dass europäische Pflanzenkenner nützlich sein könnten bei der Erfassung der einheimischen Flora. Das war eine völlig neue Sicht, denn bislang beschrieb und nutzte man japanische Pflanzen ausschließlich anhand chinesischer Texte. Besonders das Ende des 16. Jahrhunderts in China erschienene Monumentalwerk „Bencao Gangmu”(jap. Honzō kōmoku, ‘Materia Medica’) des Li Shizhen übte einen erdrückenden Einfluss aus[37]. Dass man die Apotheker Gottfried Haeck und Franz Braun mit japanischen Kräuterkundlern und Ärzten ausschickte, um die Bucht von Nagasaki nach nutzbaren Pflanzen abzusuchen, deutet auf einen Wandel in der Erfassung der japanischen Pflanzenwelt hin. Einer der Teilnehmer wies später in einer Handschrift explizit auf die Unzuglänglichkeiten der chinesischen Literatur hin[38]. Das geschah vier Jahrzehnte vor dem Erscheinen des „Yamato honzō” (‘Japanische Materia Medica’) von Kaibara Ekiken (1630-1714)[39], das in der bisherigen Forschung als erster Schritt zu einer eigenständigen japanischen Pflanzenkunde gilt. Offenbar spielte der westliche Einfluss bei der Loslösung von der chinesischen Dominanz eine gewichtige Rolle. Und auch nachdem das Interesse an den Lieferungen fremder Pflanzen deutlich nachgelassen hatte, werden botanische Studien der Europäer nicht nur geduldet, sondern sogar begrüßt.

Das wiederum traf sich gut mit dem aufkeimenden Interesse der Compagnie an der Erfassung der Pflanzenwelt Japans. Für die Bestellung der Destillationsanlage, die Bereitstellung von Setzlingen und Samen wie auch für die Entsendung von Kräuterkennern war in Batavia Andreas Cleyer zuständig, ein lizenzierter Arzt aus Kassel, der seit den 60er Jahren das Medizinalsystem der Compagnie organisierte und mit Hilfe des Gärtners Georg Meister einen Kräutergarten betrieb[40]. Cleyer suchte nach asiatischen Ersatzmitteln für die unsicheren und teuren Lieferungen aus den Niederlanden. Er hatte die Berichte über die Exkursionen von Haeck und Braun mit Sicherheit gelesen. Als er im Herbst 1682 und 1684 für jeweils ein Jahr als Faktoreileiter nach Nagasaki zog, nahm er Georg Meister mit. Cleyer erwarb japanische Pflanzenbilder, die bald darauf als „Flora Japanica” die Bibliothek Friedrich Wilhelms von Brandenburg bereicherten. Cleyer und Meister skizzierten nach Kräften, sammelten Samen und Pflanzenproben. In den „Miscellanea Curiosa” der Leopoldina erschienen zwischen 1683 und 1700 insgesamt 46 Exzerpte aus Cleyers Briefen mit den ersten Abbildungen japanischer Pflanzen. Seine langen Schreiben und Materialsendungen erregten unter Europas Gelehrten große Aufmerksamkeit[41]. Georg Meister stimulierte 1692 seinerseits mit einem auf eigene Kosten gedruckten Werk „Der Orientalisch-Indianische Kunst- und Lustgärtner” das Interesse auch außerhalb der Fachkreise[42].

1689 trug Cleyer wesentlich dazu bei, dass der Arzt und Naturforscher Engelbert Kaempfer (1651-1716) mit einem umfassenden Forschungsprogramm nach Nagasaki zog. Während der Monate vor der Abreise half Kaempfer diesem Mentor der Japankunde bei der Korrespondenz mit europäischen Gelehrten und gewann einen gründlichen Überblick über die bis dahin geleistete Erkundung der japanischen Pflanzenwelt[43].

Kaempfer ahnte nicht, warum die Japaner die Erforschung ihres Landes nach Kräften zu unterbinden suchten, seine botanischen Studien jedoch tatkräftig unterstützten. Er meinte, dass sie „als vernünftige Menschen und besondere Kenner und Liebhaber der Pflanzen die Botanike für ein unschuldiges Studium” hielten, „welches man nach dem Recht der Völker keinem wehren oder invidieren müsse”[44]. Doch unschuldig war dieses Studium von potentiell ertragreichen Pflanzenresourcen weder in Japan noch in der Ostindischen Compagnie.

 


Patronage und Öffentlichkeit

Wenn man mit J. Numata und viele anderen Autoren ‘Hollandkunde’ (rangaku) als das Studium der über die Niederlande und die niederländischen Sprache vermittelte westlichen Wissenschaft und Technik versteht, gerät man in Schwierigkeiten, die oben umrissenen Vorgänge sauber einzuordnen. Denn obwohl alle Personen, Informationen und Materialien durch die Ostindische Compagnie ins Land gelangten, finden wir neben niederländischen Büchern auch lateinische Werke, und bis in die achtziger Jahre diente die portugiesische Sprache als bevorzugtes Medium der mündlichen Kommunikation in Nagasaki und Edo. Doch stellt sich angesichts der geschilderten Sachlage die Frage, ob eine solche Definition überhaupt sinnvoll ist. Dass Sugita Gempaku, Ōtsuki Gentaku[45] und andere Pioniere des 18. Jahrhunderts über den Terminus ‘Hollandkunde’ ihre eigene Rolle und Zeit zu beschreiben suchten, ist als Zeugnis eines bestimmten Stadiums der japanischen Reaktion auf westliche Impulse durchaus bedeutsam. Die Anwendung ihrer Vorstellungen auf die Geschichte der wissenschaftlichen Beziehungen zwischen Japan und Europa ist wenig fruchtbar, denn hier erhält das Medium den Vorrang über die Inhalte.

Faktisch zeigt die Rezeption westlicher Medizin im 17. Jahrhundert nahezu alle Elemente, denen man im 18. und 19. Jahrhundert erneut begegnet. Theoretische Konzepte werden zwar nur gelegentlich gestreift, dennoch fand hier zweifelsohne ein Transfer von Wissenschaft statt. Von Anfang an ergriff die japanische Seite die Initiative und bemühte sich zielgerichtet um die Erschließung westlicher Therapien. Es werden Fachwerke angefordert, die man sich von Faktoreichirurgen in Edo und Nagasaki erklären läßt, es werden Arzneien, Instrumente bestellt und studiert, Substitute für Heilmittelimporte gesucht, einheimische Ressourcen untersucht, europäische Fachleute für Destillationstechniken und Kräuterkunde angefordert, Samen und Setzlinge eingeführt, Vokabulare angelegt, geeignete Übersetzungen entwickelt, Rezepturen und Therapien aufgezeichnet und schrittweise verbessert, es kommt zu intensiven Ausbildungen ausgewählter Ärzte auf Deshima, die teils durch Bescheinigungen bestätigt werden. Japanische Ärzte, die sich hinreichend instruiert fühlen, bilden in der Folge eigene Schüler aus, erteilen eigene Zeugnisse.

Im Zeitalter des japanisch-portugiesischen Austauschs gelangten europäische Ärzte höchst selten ins Land und hinterließen nur wenige, fragmentarische und auf konkrete westliche Texte und Lehren kaum zurückführbare Spuren. Demgegenüber hatten die Chirurgen der niederländischen Ostindischen Compagnie eine Eignungsprüfung bestanden. Sie verfügten über ein Grundwissen jener Art, wie es die eigens für diese Prüfungen publizierten Handbücher von Cornelis Herls („Examen der Chyurgie”) und Johannes Verbrugge („Heel-konstige examen ofte Instructie der chirurgie”) beschreiben[46], und dazu ein Arsenal an Heilmitteln, das sich am Standard der „Amsterdamer Pharmacopoeia” orientierte[47]. Die japanische Seite wählte aus diesem Bereich die sie interessierenden Topoi aus, wie die Diagnose und Therapie von Geschwüren / Geschwulsten, die Diagnose von Wunden, desweiteren Verfahren zur Blutstillung, Wundnahttechniken, Behandlung von Stich-, Hieb- und Schusswunden sowie Prellungen, Maßnahmen bei Kopf-, Brust- und Bauchwunden (besonders jenen mit herausquellenden Eingeweiden!), die Herstellung von Pflastern, Salben, Ölen einschließlich einiger Destillationstechniken[48]. Die Einheitlichkeit des Grundwissens und der nach Japan gebrachten Arzneikisten sowie die kontinuierliche Anwesenheit von Faktoreichirurgen in Nagasaki ermöglichten anders als zuvor die Akkumulation eines kohärenten Wissens.

Numata, der 1989 in einer Revision seiner Positionen zur Geschichte der Westkunde (yōgaku) einige der frühen Leistungen der Dolmetscher und einiger Ärzte erstmals zur Kenntnis nahm, wandte ein, dass die neuen Therapien den Kreis der Machthaber nicht verlassen hätten[49]. In der Tat entfaltete sich im 18. und 19. Jahrhundert die ‘Hollandkunde’, wie T. Yoshida detailliert aufzeigte, als „private science” außerhalb staatlicher Institutionen[50]. Und zweifellos sind es im 17. Jahrhundert wichtige Machthaber, die die Einführung der westlichen Medizin betreiben. Der von ihnen während der fünfziger und sechziger Jahre ausgehende Impuls ist so stark, dass der Reichsrat sogar ein offizielles Projekt zur Sicherung von preiswerten Rohstoffen und Heilmitteln initiiert, welches wiederum im Bereich der Pflanzenkunde die Loslösung von der chinesischen Dominanz stimuliert. Doch zugleich lässt sich nachzeichnen, wie schon Mitte des 17. Jahrhunderts einzelne Personen binnen kurzer Zeit den Inhalt neuer Handschriften weiträumig verbreiteten. Zu viele Dolmetscher und Ärzte waren in die Begegnungen mit westlichen Chirurgen involviert. Berichte wurden gemeinschaftlich aufgesetzt, entsprechend viele Kopien verblieben bei den Verfassern. Selbst wenn diese nur an Söhne und Lieblingsschüler weitergegeben wurden, wuchs die Zahl rasch, und ansonsten sorgte die bis zum Ende der Edo-Zeit florierende Kultur des handschriftlichen Kopierens dafür, dass alles, was einen brauchbaren Eindruck machte, binnen kurzem den engen Kreis der Dolmetscher und Leibärzte verließ und bis tief in die Regionen diffundierte. Mehr noch, schon 1670, 1684 und 1695 wurden die ersten Bücher zur ‚Hollandchirurgie' gedruckt, in denen der Leser deren wichtigsten Topoi studieren konnten[51]. Sie wurde zwar nicht in öffentlichen Institutionen gefördert und verbreitet, doch spätestens zu diesem Zeitpunkt war das Wissen öffentlich zugänglich geworden.

Gründe, den medizinischen Kontakten dieses Zeitalters mehr Aufmerksamkeit zu schenken, gibt es daher in Fülle.

 

 

Anmerkungen
[1]   Numata, Jirō: Dutch Learning (Rangaku) in Japan – A Response Pattern to the Foreign Impact. Acta Asiatica - Bulletin of the Institute of Eastern Culture (Tōkyō,Tōhō Gakkai), No. 22 (1972), pp. 62-72.
Numata, Jirō: Yōgaku denrai no rekishi . Tōkyō, Shibundō 1966, S. 14f.(沼田次郎『洋学伝来の歴史』東京、至文堂)。
Numata, Jirō: Yōgaku. Tokyo, Yoshikawa kōbunkan, 1989, S. 22f.(沼田次郎『洋学』東京、吉川弘文館)。
Itazawa, Takeo: Nichi-ran bunka kōshōshi no kenkyū. Tōkyō , Yoshikawa Kōbunkan, 1959, S.18-78. (板沢武雄『日蘭文化交渉史の研究』東京、吉川弘文館)
Einen lesenswerte Diskussion der Problematik bieten T. Yoshidas Arbeiten. Yoshida, Tadashi: Rangaku to rangakusha. Minamoto, Ryō en (ed): Edo-kōki no hikakubunka kenkyū. Tōkyō, Perikansha, 1990, S. 295-327.(吉田忠「蘭学と蘭学者」源了圓『江戸後期の比較文化研究』東京、ぺりかん社)
Yoshida, Tadashi: Rangaku to seiyō kagaku. In: Itō, Shuntarō / Kimura, Yōjirō (ed): Nihon kagakushi no shatei. Tōfūkan, Tō kyō, 1989, S. 121-141. (吉田忠編「蘭学と西洋科学」伊東俊太郎、村上陽一郎編『日本科学史の射程』東京、培風館)
Yoshida, Tadashi: Edo jidai no seiyō gaku. Biblia (Tenri University), No. 128, 2007, S. 145-167.(吉田忠「江戸時代の西洋学」『ビブリア』)
[2]   Oshima, Akihide: Sakoku to iu gensetsu – Kenper-cho, Shizuki Tadao-yaku 'Sakokuron' no juyōshi. Kyōto, Minerva, 2009. (大島明秀著『「鎖国」という言説—ケンペル著・志筑忠雄訳『鎖国論』の受容史—』京都、ミネルヴァ書房)
[3]   杉田玄白『蘭学事始』上下二巻、1815年成立、1865年刊行。 Zur Problematik der Sicht Sugitas siehe Honma, Sadao: Nagasaki rangaku to rekishi-kyō kasho. Nagasaki-ken kyōikuiinkai (ed.): Nagasaki-ken bunkazai chōsa-hokoku, 180, Nagasaki, 2004.(本馬貞夫「長崎蘭学と歴史教科書」長崎県教育委員会発行『長崎県文化財調査報告』第180集)
[4]   Sugita Gempaku: Rangaku koto hajime, 1869, Vol. 1, fol. 5.(『蘭学事始』明治2年、上巻、5丁). Eine englische Übersetzung findet sich z.B. in Ogata Tomio (ed.): Rangaku to Nihon bunka. Tōkyō, Tōkyō daigaku shuppankai, 1971, S. 7-25. (緒方富雄編『蘭学と日本文化』東京、東京大学出版会). Eine deutsche Übersetzung von Kōichi Mōri findet sich in Monumenta Nipponica, Vol. 5, No.1, 1942, S. 146-166; Vol. 5, No. 2, 1942, S. 501-522.
[5]   Sugita, Gempaku: Rangaku koto hajime, Tōkyō, 1890.(『蘭学事始』東京、林茂香、明治23年4月1日再版、「蘭学事始再版の序」:「我々は之を読む毎に、先人の苦心を察し、其剛勇に驚き、其誠意誠心に感じ、感極りて泣かざるはなし」)
[6]   Numata (1966), S. 14f., 22f.
[7]   西玄甫(1636-1684)、楢林鎮山(1648-1711)、本木庄太夫(1628-1697)、河口良庵(1629-1687)、嵐山甫安(1632-1693)
[8]    Sugimoto, M. / Swaine, D.L.: Science & Culture in Traditional Japan. Tokyo, Charles E. Tuttle, 1989, pp. 148ff.
[9]   Michel, Wolfgang: On the Reception of Western Medicine in Seventeenth Century Japan. In: Yoshida, Tadashi / Fukase, Yasuaki (eds): Higashi to nishi no iryōbunka. Shibunkaku Shuppan, Kyōto, 2001, S. 412-426. (吉田忠、深瀬泰旦編『東と西の医療文化』京都、思文閣出版)
[10]   National Archief (NA), Het Archief van de Nederlandse Factorij in Japan (NFJ), No. 65, Dagregister Hirado, François Caron, 20.7.1639.
[11]   NA, NFJ No. 55, Dagregister 31.10.1641.
[12]   Boxer, Charles Ralph: Jan Compagnie in Japan, 1600-1817. The Hague, Martinus Nijhoff, 1950, S. 24ff.
[13]   NA, NFJ 770, Faktur, 18.6.1646. NA, NFJ 60, Dagregister Dejima, 3.12.1646. NFJ 771, Faktur, 11.7.1647 u.a.m.
[14]    Hesselink, Reinier Herman: Prisoners from Nambu: reality and make-believe in seventeenth-century Japanese diplomacy. Honululu, University of Hawai'i Press, 2002.
[15]   Michel, Wolfgang: Von Leipzig nach Japan - Der Chirurg und Handelsmann Caspar Schamberger (1623-1706). Iudicium, München, 1999.
[16]   Über diese höchst interessante Person gibt es ausführliche Untersuchungen. Hasegawa Kazuo: Inoue Chikugo-no-kami Masashige no kaigai chishiki ni tsuite. In: Hōsei shigaku, No. 21, Tōkyō 1969, S. 125-137. (長谷川一夫「井上筑後守政重の海外知識について」『法政史学』)
Hasegawa Kazuo: Ōmetsuke Inoue Chikugo-no-kami Masashige no seiyō igaku e no kanshin. In: Iwao Sei'ichi (Ed.): Kinsei no yōgaku to kaigai kōshō. Tōkyō, Gannandō shoten, 1979, S.196-238.(長谷川一夫「大目付井上筑後守政重の西洋医学への関心」。岩生生一編『近世の洋学と海外交渉』東京、巌巖南堂書店)
Nagazumi Yōko: Orandajin no hogosha toshite no Inoue Chikugo-no-kami Masashige. In: Nihon Rekishi, No. 327, 1975, S. 1-17.(永積洋子「オランダ人の保護者としての井上筑後守政重」『日本歴史』)
[17]   Etwa 'Großer Augenmerker'. Die Niederländer nannten ihn 'commissaris', zuweilen auch 'dwarskijker', Schiefgucker.
[18]   Shiseki kenkyūkai (ed): Dankai, Gyokuteki inken, Tōkyō, Kyūko shoin, 1985, S. 80.(史籍研究会編「談海・玉滴隱見」東京、汲古書院。内閣文庫所藏史籍叢刊、第44巻)
[19]   NA, NFJ 65, Dagregister 1.2.1652.
[20]   Dankai, Gyokuteki inken, S.70.
[21]    猪股伝兵衛
[22]   Michel, Wolfgang: Von Leipzig nach Japan, S. 128f., 141f.
[23]    Michel, Wolfgang, On the Reception of Western Medicine in Seventeenth Century Japan. S. 412-416.
[24]    Hiraoka Ryūji: Kenkonbensetsu sho-shahon no kenkyū. In: Nagasaki Rekishibunka Hakubutsukan kenkyū kiyō, No.1, 2006, S. 51-63.(平岡隆二「『乾坤弁説』諸写本の研究」『長崎歴史文化博物館研究紀要』)
[25]   Michel, Wolfgang: Hans Juriaen Hancko, Zacharias Wagener und Mukai Genshō - Aspekte einer »lehrreichen« Begegnung im 17. Jahrhundert. Hikaku shakai-bunka kenkyūka kiyō - Bulletin of the Graduate School of Social and Cultural Studies, Kyushu University No. 1 (Fukuoka, March 1995), S. 109-114.(『比較社会文化研究科紀要』)。
[26]   Michel, Wolfgang / Sugitatsu, Yoshikazu: Ōtaguro Gentan no Oranda-geka menkyojō to sono haikei nitsuite. Nihon ishigaku zasshi - Journal of the Japan Society of Medical History, Vol. 49, No. 3, 2003, S. 455-477.(ミヒェル・ヴォルフガング、杉立義一「太田黒玄淡の阿蘭陀外科免許状とその背景について」『日本医史学雑誌』)
[27]   陳実功纂著『外科正宗』万暦45年撰.
[28]   癌. Seinerzeit gelegentlich auch 岩 geschrieben.
[29]   Die Rezeption dieses Werks zog sich über die gesamte Edo-Periode hin. Siehe hierzu W.F. Vande Walle / Kazuhiko Kasaya (ed.): Dodonaeus in Japan - translation and the scientific mind in the Tokugawa period. Leuven University Press, 2001.
[30]    Michel, Wolfgang: Shiiboruto kinenkan shozō no Oranda sōkakyōzu to sono haikei ni tsuite. In: Narutaki kiyō - Narutaki Bulletin, No. 17, 2007, S. 9-38.(ミヒェル・ヴォルフガング「シーボルト記念館所蔵の「阿蘭陀草花鏡図」とその背景について」『鳴滝紀要』)
[31]   Die Resultate sind in der Handschrift Oranda geka ihō im Besitz des Verfassers überliefert.(「阿蘭陀外科医方」二巻一冊、巻末:「肥陽晩斈 河口良菴春益 浅澤賢春老」)
[32]   Michel, Wolfgang: Neue Materialien zum medizinischen Personal der VOC-Niederlassung in Japan. In: Gengobunka Ronkyū - Studies in Languages and Cultures (Faculty of Languages and Cultures, Kyushu University), No.10, 1999, S. 179-194. (『言語文化論究』)
[33]   NA, NFJ 80, Dagregister, 6.11.1667. Wolfgang Michel, Elke Werger-Klein, Drop by Drop – The Introduction of Western Distillation Techniques into Seventeenth-Century Japan. Nihon Ishigaku Zasshi - Journal of the Japan Society of Medical History, Vol. 50, 2004, No. 4, S. 463–492. (『日本医史学雑誌』)
[34]   Michel, Wolfgang: Yakuzaishi Gottfried Haeck ni yoru Nagasaki kōgai no yakusō chōsa ni tsuite. In: Gengobunka Ronkyū - Studies in Languages and Cultures (Faculty of Languages and Cultures, Kyushu University), No. 21, 2005, S. 1-20.(ヴォルフガング・ミヒェル「薬剤師ゴットフリード・ヘックによる長崎郊外の薬草調査について」『日本医史学雑誌』)
[35]   NFJ 85, dagregister, 11.9.1672.
Besler, Basilius: Hortus Eystettensis. 1613. Wahrscheinlich lieferte man die zweite Ausgabe von 1640. Vgl. Michel, Wolfgang: Shiiboruto kinenkan shozō no Oranda sōkakyōzu to sono haikei ni tsuite, S. 15.
[36]   Dorsson, J.M.R. van: Willem ten Rhijne. In: Geneeskundig tijdschrift van Nederlandsch Indie. No. 51, 1911, S. 134-228. Iwao, Sei'ichi: A Dutch Doctor in Old Japan. Japan Quarterly, Vol. 8, 1961, No. 2, S.170-178.
[37]   李時珍『本草綱目』
[38]    Michel, Wolfgang: Shiiboruto kinenkan shozō no Oranda sōkakyōzu to sono haikei ni tsuite, S. 19.
[39]   Kaibara Ekiken: Yamato honzō. Kyôto: Nagata Chōbei, 1709. (貝原益軒『大和本草』永田調兵衛、宝永6年)
[40]   Zu Cleyer siehe Kraft, Eva: Andreas Cleyer. Tagebuch des Kontors zu Nagasaki auf der Insel Deshima 20. Oktober 1682 - 5. November 1683. Bonn, 1985.
[41]   Michel, Wolfgang: Ein 'Ostindianisches Sendschreiben'. Andreas Cleyers Brief an Sebastian Scheffer vom 20. Dezember 1683. In: Dokufutsu bungaku kenkyū – Studies in German and French Literature (Kyushu University), No. 41, 1991, S. 15-98. (『独仏文学研究』)
[42]   Michel, Wolfgang: Die Japanisch-Studien des Georg Meister (1653-1713). In: Dokufutsu bungaku kenkyū – Studies in German and French Literature (Kyushu University), No. 35, S.1 - 50. (『独仏文学研究』)
[43]   Engelbert Kaempfer: Heutiges Japan. Herausgegeben von Wolfgang Michel und Barend J. Terwiel. Iudicium: München, 2001, Band I/2, S. 95ff.
[44]    Engelbert Kaempfer: Heutiges Japan. Herausgegeben von Wolfgang Michel und Barend J. Terwiel. Iudicium: München, 2001, Band I/1, Heutiges Japan, Buch 5, Kapitel 1.
[45]   杉田玄白(1733-1817)、 大槻玄沢(1757-1827).
Ōtsuki, Gentaku: Rangaku kaitei, 1783.(蘭学階梯 1783成立、1788刊)
[46]   Herls, Cornelis: Examen der chyrvrgie. 16--, 1643, 1645, 1676. Verbrugge, Johannes: Heel-konstige examen ofte Instructie der chirurgie. 1677.
[47]   Pharmacopoea Amstelredamensis. Amsterdam, 1636.
[48]   Michel, Wolfgang: On the Reception of Western Medicine in Seventeenth Century Japan. In: Yoshida Tadashi / Fukase Yasuaki (ed.), Higashi to nishi no iryōbunka. Kyôto: Shibunkaku shuppan, 2001, pp. 412-426.
[49]   Numata, Jirō: Yōgaku, S. 23.
[50]   Yoshida, Tadashi: Edo jidai no seiyōgaku. Siehe auch Annick Horiuchi: When Science develops outside state patronage: Dutch Studies in Japan at the turn of the nineteenth Century. Earl Science and Medicine, Vol. 8, 2003, No.1, 148-172.
[51]   Yamawaki Dōen: Oranda geka ryōhō. Kyōto, 1670 (山脇道円『阿蘭陀外科良方』洛下、中野次良右衞門、寛文十戊暦初春。内題:『阿蘭陀流外科書』)
Nakamura Sōkyō: Oranda geka ryōjishū. Kyōto, 1684.(中村宗興編著『紅毛秘伝外科療治集』五巻三冊、貞享元年刊、京都、山本長兵衛刊行)
Oranda geka shinan. Kyōto, 1695 (Vorwortdatierung). (『阿蘭陀外科指南』元禄九年序、京都、上村平左衛門)

 

TOPTOP
inserted by FC2 system