JAPANINFO, JAPANINFO No.6, Ulm, 24.4.1995
Wolfgang Michel

Wo gehobelt wird...


Um jedem Mißverständnis vorzubeugen: die für den Sarin-Terror in Tokio, das Gas-Attentat in Yokohama und andere möglicherweise hiermit zusammenhängende Verbrechen verantwortlichen Täter - wo immer sie sich auch verbergen - müssen schnellstens dingfest gemacht und ihrer Schuld entsprechend bestraft werden. Doch fallen in der latent hysterischen Atmosphäre dieser Wochen Späne, die man nicht so einfach in den Kehrrichteimer fegen möchte. Auf die unrühmliche Rolle der Medien, deren Vermischung von Informationen, Meinungen, Vermutungen zuweilen in Kombination mit völlig zusammenhangslosem Bildmaterial hatte ich schon hingewiesen. Auch darauf, daß für eine von vielerlei Ängsten gepeinigte, nach psychischer Entlastung lechzende Gesellschaft die Aum-Sekte eine willkommene Projektionsfläche aller inneren Probleme darstellt. Die Ermordung eines prominenten Führers der Sekte vor laufenden Kameras dieser Tage enthüllte dann das enorme emotionale Potential, das sich aufgeladen hat. Erschreckend wieder die Reaktion der Medien, die unermüdlich wiederholte Ausstrahlung der letzten Sekunden des Opfers aus allen Winkeln in Zeitlupe und Standbild über sämtliche Kanäle in Nachrichtensendung, Talk-Shows und anderen Sonderprogrammen mehr. Man fragt sich, welchen (Nachrichten-)Wert, welchen Sinn es hat, das schmerzverzerrte Gesicht, das lange Küchenmesser, das Blut immer und immer wieder zu zeigen und zu sehen.

Desweiteren spielen bei den Ermittlungen rechtliche Aspekte offenbar keine große Rolle mehr: eine Geschwindigkeitsübertretung, die Verteilung von Flugblättern, ein Cutterknife und ähnliche Vorwände reichen als Verhaftungsgrund mittlerweile völlig aus. Erweiterte Interpretation der bestehenden Gesetze sei das, heißt es, und sogar Ministerpräsident Murayama tat in einer öffentlich übertragenen parlamentarischen Ausschußsitzung kund, daß man diese Leute erst einmal wegen anderer Sachen verhaften und dann aktiv nachsetzen solle. In einer eilends einberufenen Pressekonferenz mußte er nur kurz darauf seine "mißverständliche Äußerung" korrigieren. Doch war das wohl die Stimme der Mehrheit. Die Liste der Ungereimtheiten bei der Begründung staatlicher Handlungen, Maßnahmen ist lang geworden. Natürlich äußern inzwischen Vertreter der Rechtsanwaltvereinigung, einige Journalisten und Fachleute Bedenken. Desweiteren hat die vom Kultusminister und anderen Kabinettsmitgliedern betriebene Debatte um eine Auflösung der Aum-Sekte einige Beunruhigung unter den religiösen Körperschaften des Landes ausgelöst. Falls es tatsächlich schon im bloßen Vorfeld eines Prozesses zum Verbot käme, wäre ein auch aus der Sicht traditionell christlicher Kirchenkreise bedenklicher Präzedenzfall geschaffen.

Wie kommt es nur, daß niemand unter den Meinungsführern in Politik und Medienlandschaft einmal der Frage nachgeht, warum so viele gut ausgebildete und offenbar intelligente junge Menschen solchen neuen Sekten und Kultgruppen zulaufen?


TOPTOP
inserted by FC2 system