1870 erreichte der erste Gruppe junger Japaner, die nach Deutschland zur Ausbildung geschickt wurde, Berlin. Das Aufsehen war beträchtlich, wenn man einem Bericht glaubt, den die Familienzeitschrift "Die Gartenlaube" 1872 druckte.

Bartlose Philosophen


Siebenzig junge Männer, deren Herkunft, Sprache und Äußeres die Aufmerksamkeit sowohl an öffentlichen Orten als in der gebildeten Gesellschaft in Anspruch nimmt, bleiben auch in dem großen, unruhigen Berlin nicht unbeachtet, und das leichtbegreifliche Interesse, welches sie in weiteren Kreisen erwecken, rechtfertigt eine Schilderung der kleinen Colonie.
Das Alter der jungen Herren ist zwischen achtzehn und vierundzwanzig Jahren. Es sind durchgehends kleine und ziemlich schmächtige Gestalten. Mehr als durch das schlichte und glänzend schwarze Haar, das sie europäisch geschnitten tragen, fallen sie durch die mandelförmig geschlitzten Mongolenaugen und den gelblichen Teint auf. Die Phvsionnomien sind so verschieden wie möglich. (...) Der Bartwuchs ist nur bei Wenigen ausgebildet, bei den Uebrigen schwach oder gar nicht vorhanden.
Mit Geldmitteln scheinen sie reichlich ausgerüstet zu sein; denn wenn sie auch über diesen Punkt wie über manchen andern ein vorsichtiges Schweigen beobachten, so zeigt doch, abgesehen von dem Luxus, mit dem sie für ihr Äußeres sorgen, ihr ganzes Leben, daß ihre Finanzen sich in vortrefflicher Ordnung befinden. So zum Beispiel kaufen sie Einer nach dem Andern goldene Taschenuhren, für welche sie ohne Kette zwischen hundertsiebenzig und dreihundert Thaler zahlen. Alles, was zur Förderung ihrer Studien dienen kann, wie Bücher, Globen, Atlanten, wird ohne Rücksicht auf die Kosten auf das Allerbeste bescham. Auch der Unterricht kostet viel. Die japanische Regierung verfährt offenbar bei dem ganzen Unternehmen mit anerkennenswerther Liberalität, und zudem sind die Freiwilligen ja die Söhne des höchsten Adels, so daß ihre reichliche Ausstattung und ihr trächtlicher Wechsel nicht Wunder nehmen können.
Ihre wissenschaftliche Ausbildung beschränkt sich zunächst auf die Erlernung der deutschen Sprache, was aber unter den gebenen Verhältnissen einer großen Energie und unausgesetzten Anstrengung bedarf. Denn von der gänzlichen Verschiedenheit des Idioms abgesehen, giebt es erstens in ganz Berlin keinen Menschen, der auch nur die Anfangsgründe der japanischen Sprache, geschweige denn sie so weit kennt, um sich in ihr verständlich zu machen; zweitens giebt es keine deutsch geschriebene Grammatik der japanischen oder japanisch geschriebenen Grammatik der deutschen Sprache und ebensowenig ein japanisch-deutsches oder deutsch-japanisches Lexikon. Und nun denke man sich den deutschen Lehrer den Japanesen gegenüber ohne irgend eine Vermittelung! Wahrlich für Beide eine mühevolle Aufgabe! Die einzigen Aushilfen sind englisch-japanische Lexika und Grammatiken; was man davon hat, ist aber so dürftig und unvollständig, daß es nur einen sehr geringen Nutzen bringt.

Doch Beharrlichkeit überwindet jedes Hinderniß. Und so gelingt es auch unseren jungen Freunden, durch Ausdauer und Achtsamkeit im Verlaufe von sechs Monaten so weit zu kommen, daß sie deutlich Gesprochenes verstehen und sich selbst verständlich machen können. In Jahresfrist aber sprechen sie das Deutsche ziemlich fließend, verstehen Alles und schreiben schon einen fehlerfreien Brief. Sie wenden den größten Fleiß an ihre Aufgabe. Zeitig des Morgens, im Sommer etwa um sechs Uhr, im Winter eine Stunde später, gehen sie an die Arbeiten, welche sie nur während der Mahlzeiten unterbrechen und oft bis lange nach Mitternacht fortsetzen, so daß schon der Arzt sich dieserhalb zu Ermahnungen veranlaßt gesehen hat. Bei dem Lehrer nimmt übrigens jeder Schüler den Unterricht allein. Ist der Letztere endlich der Sprache so weit mächtig, also etwa nach Verlauf von anderthalb Jahren, so beginnt er sich mit dem erwählten Fachstudium zu beschäftigen, wiederum zuerst auf dem Wege des Privatunterrichts und schließlich durch den Besuch der öffentlichen Unterrichtsanstalten oder der für den betreffenden Lehrgegenstand bestehenden Institute. Alle möglichen Richtungen der Ausbildung sind ins Auge gefaßt. So studiren auf der Universität als immatrikulierte Studenten Einer Jura und Sieben Medicin. Mehrere widmen sich der Pharmakopöie; Andere wollen landwirthschaftliche Lehranstalten besuchen; eine große Anzahl beabsichtigt Militär zu werden.

Neben dem Fleiße und der Pflichttreue besitzen sie noch andere Tugenden, welche ihnen schnell Achtung und Zuneigung erwerben. Vorzugsweise ist dahin ihre Wahrheitsliebe und Gewissenhaftigkeit auch in den kleinsten Dingen zu rechnen und sodann die Höflichkeit, wegen deren die Japanesen von jeher gerühmt worden sind. Und das ist mit vollem Rechte geschehen, denn es streift ihre Höflichkeit nicht im Entferntesten an orientalische Unterwürfigkeit oder occidentalische Kriecherei, sondern ist wirklich eine anmuthige Mischung von dem feingesitteten Entgegenkommen des gebildeten Mannes und der Bescheidenheit eines guten Kindes.

Für eine Pflicht der Höflichkeit halten es die Japanesen, Alles, was ihnen gezeigt wird, zu loben und die Vorzüge Europas vor Japan anzuerkennen. Bei den Mahlzeiten sind sie sehr bescheiden und mäßig und mit Allem zufrieden, loben auch die deutsche Kochart höchlichst; aber ab und zu bricht doch die Sehnsucht nach einem japanischen Mahle durch alle Floskeln der Höflichkeit hervor. Dieses entschuldbare Gelüste befriedigen sie, wenn die Pflegemütter keine Einwendungen erheben, an ihren Geburtstagen, zu denen sie so viel Landsleute, als das oder die Zimmer fassen, einladen und mit einem auf japanische Weise höchst eigenhändig bereiteten Diner bewirthen. Die Ingredienzen zu solchem Festmahle werden von ihnen selbst eingekauft und bestehen aus Reis, Fisch, Geflügel, Pilzen, Zwiebeln und japanischer Soya, die hier in den Delicateßläden zu bekommen ist. Ein hier unbekanntes Gewürz, eine Art Seetang, haben sie mitgebracht. Sobald die Tafel aufgehoben ist, kommt der Thee, natürlich japanischer, der viel stärker als der chinesische ist, und nun wird der heiße, aufregende und erhitzende Trank selbst im glühenden Sommer in unbegreiflichen Quantitäten genossen, den Nachmittag, den Abend, ja die Nacht hindurch. An Wein, Bier oder anderen berauschenden Getränken, außer Thee, finden die Herren keinen Geschmack.

Noch einiges theils Charakteristisches, theils Befremdendes möchte der Erwähnung werth sein. Dahin wäre die große Verschwiegenheit, welche unsere jungen Gäste über gewisse Gegenstände beobachten, zu zählen. Es müssen ihnen bestimmte Vorschriften ertheilt sein, nichts über Religion, über ihre persönlichen und finanziellen Verhältnisse in der Heimath oder über den Mikado nebst Familie mitzutheilen. Berührt man eines dieser Themata, so wird man sogleich ein Zurückweichen inne, welches mit ihrem sonstigen offenen, vertrauenden Wesen im Widerspruch steht. Sie vermeiden sogar sehr geschickt die Angabe, zu welcher der drei in Japan herrschenden Religionen sie sich bekennen. So erwiderte einer der jüngsten von ihnen, ein hübscher Junge von achtzehn Jahren, einigen jungen Damen, die ihn lebhaft bestürmten, ihnen sein Glaubensbekenntnis abzulegen, mit freundlichem Lachen: Ich bin Philosoph und Weiberfeind."



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