Wolfgang Michel
Barbierchirurgen im 'Thule des Ostens'Die Leiter der über Ost- und Südostasien verstreuten Handelsstationen der niederländischen Verenigden Oostindischen Compagnie (VOC) machten im siebzehnten Jahrhundert wenig Aufhebens von dem ihnen unterstellten medizinischen Personal. In ihren dienstlichen Tagebüchern schrieben sie meist nur vom 'heelmeester', 'chirurgijn' oder 'barbier', selten ließen sie sich zu einer namentlichen Nennung hinreißen. Auch in der japanischen Niederlassung auf dem Inselchen Deshima (Nagasaki)[1] war das üblich. Auf der Suche nach biographischen verwertbaren Daten ist man daher auf andere Dokumente verwiesen, doch die Unterschriften unter den Beschlüssen und Briefen des Rates dieser Faktorei stammen ausschließlich vom kaufmännischen Personal, dem merkantilen 'Adel' der Compagnie. Zahlreiche Unterlagen aus jenem ersten Jahrhundert der VOC sind zudem verschwunden, dem feuchtheißen Klima, Schiffbrüchen, Bränden zum Opfer gefallen oder durch unachtsame Verwalter vernichtet. So ist es wenig verwunderlich, daß die bisherigen Tabellen der in Japan tätigen Faktorei-Chirurgen für das siebzehnte Jahrhundert Lücken zeigten. Einige, in der nachfolgenden Übersicht durch ein Sternchen gekennzeichnet, konnten in jüngster Zeit geschlossen werden. Die Namen lassen erkennen, daß erstaunlich viele Deutsche darunter waren. Hier und dort wurde sogar der Geburtsort klar.[2]
Mit wenigen Ausnahmen hatten die Chirurgen kein Universitätsstudium absolviert, sondern nur eine Lehre in einer Barbier- bzw. Chirurgengilde. Das verschaffte ihnen in der Heimat zwar einen gesicherten Platz, doch eher im unteren Teil des gesellschaftlichen Spektrums. Japan hingegen begegnete ihnen mit großer Wertschätzung. Denn sie kannten sich in einer Disziplin aus, welche die einheimische Medizin lange vernachlässigt hatte: die Chirurgie. In China hatten konfuzianische Konzepte der Unversehrtheit des menschlichen Körpers wie auch die Scheu der buddhistischen Medizin vor 'einschneidenden Maßnamen' dazu geführt, daß dieser Zweig der Heilkunde als wortwörtlich 'äußeres Fach' (chin. waike)[3] ziemlich dürr vor sich hinkümmerte. In Japan war das über Jahrhunderte nicht anders. Doch widerfuhr den Menschen im Osten nicht weniger Ungemach als im Westen. Immerhin bildeten sich während des 16. Jahrhunderts im Zuge der langen Kämpfe um die Vorherrschaft über das japanische Archipel, heute spricht man von der “Periode der Kämpfenden Reiche”, Ansätze zu einer einheimischen 'Metallwunden-Medizin' (kinsô)[4] heraus. Für die Feldchirurgen gab es viel zu tun und einiges zu lernen, nicht nur bezüglich der mit den westlichen Feuerwaffen ins Land gekommenen neuen Wundtypen, auch hinsichtlich der Behandlung von Brüchen, Ausrenkungen, Geschwüren. Die in den fünziger Jahren des siebzehnten Jahrhunderts an der Spitze des inzwischen geeinten und straff kontrollierten Staates stehenden älteren Herren pflegten diverse Erinnerungen an siegreiche Schlachtgemetzel. Ja noch 1637/38 mußte man auf der Insel Kyushu einen gewaltigen Aufstand gegen das junge Herrschaftssystem der Tokugawa niederschlagen. Ärzte und Würdenträger in Nagasaki und Edo waren von ihrer Biographie, teils auch von ihrem Alter her an den fremden 'meesters', unter denen zumindest die Deutschen reiche Erfahrungen auf den Schlachtfeldern des Dreißigjährigen Krieges gesammelt hatten, überaus interessiert. Faktoreichirurgen hatten dadurch immer wieder Gelegenheit, einflußreiche Japaner bis hin in den erlesenen Kreis der Reichsräte persönlich kennenzulernen, was ihren Vorgesetzten nur selten gelang. So wurde nicht wenigen der Aufenthalt in Japan zu einer angenehmen Erinnerung. Und auch die von ihnen in westlicher Heilkunst unterwiesenen japanischen Kollegen pflegten ihr Andenken. In so mancher Handschrift, deren Wurzel diese frühen Dekaden zurückreicht, findet man in Silbenschriftzeichen europäische Namen wie “kasuparu” (Caspar), “suteibin” (Steven), “korunerisu” (Cornelisz). Einer davon war “ansu yorean”[5] über den man bislang außer diesem verballhornten Vornamen nichts wußte. Archivstudien ergaben, daß es sich um einen Deutschen handelt, der in Japan zwei ereignisreiche Jahre verbracht hatte, eines davon unter Zacharias Wagener, einem Landsmann aus Dresden. Diese Zeit wird nachfolgend anhand niederländischer Handschriften vorgestellt.[6] Die Analyse der medizinischen Spuren in alten japanischen Quellen habe ich an anderer Stelle in Angriff genommen.[7]
Meister HansEine Personalnotiz der Compagnie lieferte den entscheidenden biographischen Schlüssel. Jener Meister “ansu” existierte tatsächlich. Er hieß mit vollem Namen Hans Juriaen (= Jürgen) Hancke,[8] stammte aus Breslau und war in der Endphase des Dreißigjährigen Krieges, im Dezember 1646, auf dem Fleutschiff Koe (= Kuh) von Texel aus nach Ostindien aufgebrochen. Hancke hatte sich bei der Kammer Amsterdam beworben, der größten und hinsichtlich ihrer Anforderungen an Barbierchirurgen strengsten unter den sieben Kammern der Ostindischen Compagnie. Daß er im Rang eines Oberchirurgen mit einem Monatssold von 32 Gulden angemustert wurde, spricht für eine solide Ausbildung und Berufserfahrung. Im Juni 1647 traf sein Schiff in Batavia ein.[9] Zu Hanckes Leben danach fand ich bislang nur wenig. Mit dem Ablauf des ersten, in der Regel fünfjährigen Arbeitsvertrages stand ein erneuter Abschluß an, doch wollte Hancke, wie ein Vorgesetzter später schrieb, sich weder zeitlich binden noch befördern lassen, sondern versuchte 'von Jahr zu Jahr' wieder nach Europa zurückzukehren.[10] Allzu übermächtig scheint der Drang nach Westen indes nicht gewesen zu sein, gab es doch alljährlich eine Retourflotte in die Heimat, wo man für Chirurgen jederzeit Verwendung hatte. Anfang der fünfziger Jahre war kam er als Chirurg auf einem Schiff häufiger nach Siam.[11] Dann - aus welchen Gründen auch immer - geht er im Herbst 1655 in der entlegensten Ecke des Oktroi-Gebietes der Compagnie an Land, in der Faktorei Deshima (Dejima), Nagasaki.
Erste Reise nach Edo 1656Dank des Tagebuchs der Faktorei und anderer Papiere seiner Vorgesetzten wissen wir mehr über die folgenden beiden Jahre. Schon kurz nach Dienstantritt, am 22. Dezember 1655, mußte der zusammen mit ihm ins Land gekommene neue Faktoreileiter Joan /Jan Boucheljon zur alljährlich obligatorischen Reise an den Hof des Shôgun in Edo aufbrechen. Mit von der Partie waren der Kaufman Joan Oetgens, zwei kaufmännische Assistenten, der Oberchirurg Hancke und eine große Schar japanischer Begleiter.[12] Engelbert Kaempfers berühmte Beschreibung der 'Hofreise' von 1691 beginnt mit der Durchquerung der Insel Kyû û von der westlich gelegenen Hafenstadt Nagasaki zur nordöstlichen Hafenstadt Kokura auf der sogenannten Nagasaki-Route (Nagasaki-kaidô).[13] Seine Gruppe schiffte sich dann von Shimonoseki aus in Richtung Hyôgo / Ôsaka ein, um dann über die 'Ostmeerstraße' (Tôkaidô) nach Edo zu ziehen. Zu Hanckes Zeiten umrundete man jedoch von Nagasaki aus per Schiff zunächst Nordkyû shû, lief durch die Meerenge von Shimonoseki in die Inlandsee ein und steuerte direkt Hyôgo / Ôsaka an. Die Reise von 1656 beschreibt Boucheljon in recht dürrer Form. Nach knapp sechs Wochen erreichten er und sein Troß am 4. Februar 1656 das im Stadtteil Honkokuchô [14] gelegene 'Nagasaki-Haus' (Nagasaki-ya). Dies war die vorgeschriebene Herberge für alle VOC-Gruppen, aber auch die japanischen Beamten aus Nagasaki pflegten, wenn sie dienstlich am Hofe zu tun hatten, hier zu übernachten. Vor der Audienz herrschte ein reges Gewimmel. Die Geschenke mußten gereinigt, nötigenfalls repariert und auf eigens hierzu angefertigten Borden hergerichtet werden. Allerlei anstehende Probleme zwischen der Compagnie und der Reichsführung galt es zu besprechen und lösen. Dazu noch zahlreiche dienstliche und weniger dienstliche Besucher, welche man - ein Fehler in der Etikette konnte unangenehme Folgen nach sich ziehen - mit der gebührenden Aufmerksamkeit bewirtete. Dann wurde die besten Kleider aus der Kiste geholt, und - den meisten Faktoreileitern war es einen Eintrag im Tagebuch wert -. am Vorabend suchte man sogar ein öffentliches Bad auf. Die gelegentlich sarkastischen Anmerkungen im Tagebuch wie auch die ständigen Klagen über die Kosten geben der Hofreise den Charakter einer lästigen und ungeliebten Pflicht, der man sich unwillig unterzog. Doch aus japanischer Sicht genossen die Faktoreileiter ein hohes Privileg, denn der Stand der Kaufleute rangierte noch unter dem der Bauern. Kein japanischer Handelsmann, und sei er noch so erfolgreich und wohlhabend gewesen, hätte von einem Auftritt im Schloß zu träumen gewagt. Ein wenig anders als in europäischen Audienzen ging es allerdings zu. Im Abendland pflegte man dem Bittsteller, Gast oder Gesandten das geneigte Ohr zu leihen, d.h. es fand eine - wie auch immer geartete - mündliche Kommunikation statt. In Edo jedoch erwiesen die Vertreter der Compagnie, nachdem im Vorfeld alle Fragen entschieden und bereinigt waren, ihre stumme Referenz in zeremonialisierter Demut. Den 'Kaiser', wie die Europäer den 'weltlichen Herrscher', d.h. den Shôgun, im Gegensatz zum Tenno als 'geistlichen Herrscher' nannten, bekamen sie dabei nicht einmal richtig zu Gesicht. Er saß hinter einer Binsenjalousie, wo man ihn, falls der Mut für einen verstohlenen Blick reichte, bestenfalls als Schattenumriß wahrnahm. Der achte Shôgun Yoshimune (1677 - 1751), der, wie Engelbert Kaempfer berichtete, in einer zweiten Sitzung die fremden Gäste ausgiebig zu erkunden suchte, war unter den Herrschern der Edo-Zeit eine seltene Ausnahme. Zu Hanckes Zeiten saß hinter der Jalousie ein recht junger Mann, der vierte Shôgun Ietsuna (1639 - 1680), der 1651 als Zwölfjähriger unter einem Vormund die Nachfolge seines verstorbenen Vaters angetreten hatte und sich bei den Audienzen für die Niederländer nicht sonderlich kenntlich machte.
Reichsinspekteur Inoue: Sieht aus wie ein Japaner, doch Freund der Südbarbaren, unberechenbarWeitaus deutlicher wird in den Unterlagen der Compagnie ein Mann namens Inoue Masashige (1585-1661), der den Ehrentitel 'Bewahrer von Chikugo' (Chikugo no kami) trug und daher meist als “Chikugo-dono”, d.h. 'Exzellenz Chikugo'.[15] oder als “Commissaris” erscheint. Er hatte sich einst bei der Vertreibung der katholischen Missionare und der Ausrottung des Christentums einen Namen gemacht und übte seit 1632 das Amt des Reichsinspekteurs (ômetsuke),[16] d.h. einer Art Staatssicherheitschef, aus. In dieser Position hatte er Zugang zum Shôgun, über ihm standen nur noch die wenigen Reichsräte. Inoue sorgte für die Vorbereitung der Audienz, regelte die Verteilung der mitgebrachten Geschenke, leitete die Wünsche der Reichsräte nach bestimmten Geschenken bzw. Warenbestellungen weiter und kümmerte sich um alle anstehenden Probleme. Unter dem Volke war er gefürchtet, sein Faible für Westliches war stadtbekannt. 'Sieht aus wie ein Japaner, Freund der Südbarbaren, unberechenbar, der Christen-Bugyô Inoue, Bewahrer von Chikugo', lautete ein - verständlicherweise anonymes - Wandgekritzel im Stadtteil Ueno, das ein Beamter 1651 als bedenklich notierte und so der Nachwelt überlieferte.[17] Inoues Verliese waren gut gefüllt mit malträtierten japanischen Christen und Regimegegnern, gelegentlich kam ein festgesetzter europäischer Pater hinzu, der sich ins Land geschlichen hatte, vergeblich. Im Umgang mit den Vertretern der Compagnie trat der “Commissaris” als unnachgiebiger, doch wohlwollender, zuweilen jovialer Vertreter der Tokugawa-Interessen auf. Daß er in der katholischen Japanliteratur jener Zeit schlecht wegkommt, hat handfeste, grausame Gründe. Doch auch die in den Tagebüchern und Briefen der niederländischen Ostindischen Compagnie zu findenden Bezeichnungen wie “unser Patron” oder “unser Fürsprecher” waren angemessen. [18]Inoue sammelte nicht nur Informationen aus dem eigenen Lande. Die Niederländer mußten jährliche Berichte (fûsetsu gaki)[19] einreichen, die während der Gespräche immer wieder mehr oder minder dezent überprüft, entsprechend ergänzt und korrigiert wurden. Dazu kamen gezielte Bestellungen von Büchern und vielerlei Objekten. Er gehörte dadurch zu den wenigen Japanern, die wußten, daß die Erde eine Kugel war und wer im fernen Westen gerade mit wem gegen wen koalierte. Inoue hatte die technologische Potenz der Europäer erkannt und suchte sie nach Kräften zu nutzen. So betrieb er - mehr als ein halbes Jahrhundert vor dem Aufkommen der japanischen “Holland-Studien” (Rangaku)[20] - bereits die Übernahme westlicher Techniken und Wissenschaften, darunter der Heilkünste.[21] Im letzteren Fall erkennen wir durchaus auch persönliche Motive. Der recht betagte Herr litt an Hämorrhoiden, Blasensteinen und einem Katarrh, womit die Leibärzte nicht zurechtkamen, und so mehrten sich mit den Jahren die Anfragen nach geeigenten Therapien. Nach Caspar Schambergers zehnmonatigem Wirken in Edo im Jahre 1650 wurden fast alle Faktoreichirurgen während ihres Aufenthaltes in der Hofstadt zu Inoues Residenz eingeladen. Teure und feine Drogen und Arzneien trafen aus dem Ausland ein, was einen mutigen Mann aus dem Volke zu folgender Kritzelei inspirierte: 'Heutzutage gibt es Mumie, Bezoar, Einhorn - die vergeblichen Wundermittel der Exzellenz Inoue'[22] Schon am Tag nach der Ankunft Boucheljons und seiner Mannen brachte man wie stets, die sogenannten 'Raritäten' in Inoues Residenz. Das Rechnungsbuch der Compagnie listet vier Ketten mit Bernstein-Korallen, eine mit Blumen verzierte Dose, ein Bouquet, drei Glasfläschchen mit einem aus Holz gefertigten 'Kunstwerk', eiserne Arm- und Beinprothesen, ein langes Stück weißen italienischen Plüsches, zwei Dosen mit chirurgischem Verbandzeug sowie zwanzig Rochenhäute auf. Einiges davon, so wurde beschieden, eigne sich als Geschenk für Ihre Majestät, anderes sei wohl eher für die Reichsräte. Die Niederländer hatten außerdem Schnapphahn-Pistolen, Lupen, Spiegel und Nasenbrillen mitgebracht, die offenbar bestellt waren und bezahlt werden mußten. Deren Verteilung wurde in den folgenden Tagen besprochen.[23] Für den Reichsinspekteur gab es überdies diverse holländische Samen wie Kohl, Hülsenfrüchte, Petersilie, Kirschen [?], die in dessen Garten ausgebracht wurden und im Juli Früchte trugen.[24] Am 8. Februar erschien Inoues Portugiesisch-Dolmetscher Shin'emon[25] im Nagasaki-Haus, um im Auftrag seines Herren die Zubereitung einiger Arzneien aufzuschreiben und sich nach Mitteln zum Brechen von Blasensteinen zu erkundigen. Hancke gab ihm die gewünschten Auskünfte und wies darauf hin, daß einige der mitgebrachten Arzneien hierzu sehr nützlich seien. Alles wurde getreulich auf japanisch notiert, dazu noch die Rezepte von Pflastern und Salben, um dem hohen Herren Bericht zu erstatten.[26] Mitte des Monats wurden Hancke, Oetgens und der Assistent Weijns zu Inoues Residenz eingeladen, wo man sie aufs Freundlichste bewirtete. Wieder kreisten die Gespräche um steinbrechende Arzneien und andere medizinische Fragen. Bei dieser Gelegenheit ließ der Reichsinspekteur sich auch den Gebrauch der mitgebrachten eisernen Arm- und Beinprothesen demonstrieren. Ein Blick auf die Anfang 1652 aufgegebene Bestellung Inoues zeigt, daß er offensichtlich die Abbildung dieser Prothesen in Ambroise Parés Schriften gesehen hatte. Man wünsche sich, hieß es damals, 'vier künstliche eiserne Hände mit Schrauben wie natürliche gemacht, daß man, ein Schwert zum Fechten und eine Feder zum Schreiben einspannen und gebrauchen kann; zwei rechte und zwei linke Hände, und das eine Paar köstlicher und kuriöser als das andere'. Dazu 'zwei in der gleichen Art gemachte Beine, um sie wie oben bei Verlust der natürlichen (oder eher aus Kuriosität) zu gebrauchen'.[27] Nun waren die Wunderwerke auf dem Fleutschiff “Hasen” endlich eingetroffen, eine Sonderanfertigung aus den Niederlanden: zwei Hände, zwei Beine. Dazu, als reduzierte Dreingabe, eine weitere, gebrauchte (!) linke Hand; alles zusammen stolze 500 Gulden.[28] Doch wurde nun zum Erstaunen Boucheljons nur wenig Aufhebens davon gemacht. Es schien, als hätte Inoue sich etwas anderes darunter vorgestellt.[29] Schließlich trat noch ein japanischer Arzt auf, dem Hancke aus dem Anatomiebuch von Vesalius einige Instruktionen erteilte. Dies war das 1543 erstmals publizierte Werk “De humani corporis fabrica”, das mit dem Schiff Angelier im Sommer 1655 nach Japan gebracht und auf 36 Gulden veranschlagt worden war.[30] Vesal, der sich aus dem dogmatisierten Schema der galenischen Tradition zu befreien suchte und die unmittelbare Beobachtung betonte, hatte mit diesem Buch in Europa großes Aufsehen erregt. Welchen Eindruck bewirkten bei japanischen Betrachtern wohl die Abbildungen, die ganz anders waren als all die simplen, eher spekulativen Schemata der sinojapanischen Tradition? Verwunderlich ist es schon, daß trotz solcher Unterweisungen noch viele Dekaden verstrichen, bis man endlich ein Anatomiebuch, Johann Remmelins Pinax Microcosmographicus, auf japanisch zusammenfaßte.[31] Nach den Befragungen und Instruktionen wurden die Gäste wieder mit Speis und Trank bewirtet.[32] Der genannte japanische Arzt arbeitete wohl als Nachfolger des 1655 verstorbenen Leibarztes Tôsaku im Hause Inoue.[33] Dort müssen im Laufe der Jahre eindrucksvolle Sammlungen von Instrumenten, Drogen, Arzneien, westlichen Waffen usw. zusammengekommen sein. Wie sein Vorgänger nutzte dieser Arzt die Niederländer nach Kräften und Gelegenheit, um sich fortzubilden. Anläßlich eines anderen Besuches in Inoues Residenz brachte er zwei große Hörner zum Vorschein, mit denen er nichts anzufangen wußte. Das eine, so wurde ihm erklärt, stamme vom Rhinozerus, das andere, um die Hälfte längere, sei ihnen unbekannt.[34] Wiederum befragte er Hancke nach der Kraft und Zubereitung diverser Arzneien und notierte sich die lang und breit gegebenen Ausführungen.[35] Dann griff der anwesende Hausherr ins Gespräch ein. Unter anderem erkundigte er sich nach der Wirkung eines “Belili” genannten Mittels. Die Compagnie hatte es auf seine Bestellung hin mit erheblichem Aufwand gesucht und nach Japan geschickt. Tatsächlich findet man in älteren japanischen Handschriften dieses 'biriri'. Trotz intensiver Suche konnte ich dieses Mittel aber in keiner mitteleuropäischen Pharmakopoee nachweisen. Japanischen Quellen zufolge handelte es sich um das Blut eines Fisches, ähnliches findet sich auch in einem niederländischen Faktoreitagebuch.[36]Glücklicherweise hatte einer der Dolmetscher eine alte Aufzeichnung zur Anwendung aus Nagasaki mitgebracht, die auf Auskünften von Portugiesen beruhte, welche dort bis 1638 gelebt lebten hatten.[37] Da auch Hancke wenig hierzu wußte, handelt es sich wohl um eine Art Voksmedizin aus einer der portugiesischen Kolonien.
Zwei hochgestellte Patienten: “Foerino Ouneme” und “Matsendeiro Tossanocamij”Die Audienz fand, da in jenem Jahr keine größeren japanisch-niederländischen Probleme vorlagen, bereits am 10. Februar statt. Danach hatte man etwas Luft. Bezeichnenderweise erschien noch am selben Tag Shin'emon im Nagasaki-Haus und erklärte, daß ein edler Herr aus dem Fürstentum Bungo namens “Foerino Ouneme” sehr krank sei und nach Mitteln fragen werde.[38] Weisungsgemäß wartete Hancke im Hause, als am 11. Februar der angekündigte Patient in einem Palaquin vorgetragen wurden. Zwar konnte er nach der Untersuchung und Befragung einige Mittel gegen die Schmerzen anbieten, doch das Leiden, notierte Boucheljon im Tagebuch, ließ sich nicht ausheilen - wegen des hohen Alters und angesichts der Tatsache, daß die Nerven nun schon 20 Jahre verkrampft und geschwächt seien. Hancke versprach jedoch, 'soweit nur möglich seinen Fleiß zur Heilung anwenden'.[39] Offenbar nahm man die Chirurgen der VOC gerne in Anspruch, wenn die eigenen Leibärzte nicht mehr weiterwußten. Am 15. Februar traf eine kurze Mitteilung Inoues ein, daß man Hancke ins Haus des 'Bewahrers von Tosa' Matsudaira (“Matsendeiro Tossanocamij”) entsenden möge. Dies war Yamauchi Tadayoshi[40] aus einem Nebenzweig der herrschenden Tokugawa-Familie. Vierundzwanzig Tonnen Gold Jahreseinkommen habe dieser 'werdende Prinz von Tosa' vermerkte Boucheljon beeindruckt. Es war ein Herr von 65 Jahren, bei dem durch eine Art Schlaganfall seit vier Jahren einige Körperteile 'der gehörigen Nahrung entbehrten' und einige Nerven verzogen waren. Auch da konnte man nur versprechen, sein Möglichstes zu tun.[41] Tags darauf zog Hancke los, rieb 'seine Edelheit' mit einigen eigens hierzu bereiteten Ölen ein und legte Pflaster auf. Er sei, erzählte er nach der Rückkehr, anschließend durch den Regenten festlich unterhalten worden.[42] Das schien den Kaufmann Oetgens anzulocken, der bei den zwei folgenden Krankenbesuchen mit von der Partie war.[43] Zwar fühlte der Patient einige Besserung,[44] doch dann schwoll ein mit einer großen Juckflechte befallenes Bein, das Hancke eingerieben hatte, stark an und verursachte heftige Schmerzen. Man möge doch, ließ er seinen Sekretär ausrichten, das Bein einige Tage beobachten, ohne dieses Mitttel anzuwenden. Doch das Verständnis der Europäer, deren Chirurgen gerne mit Sägen und Brenneisen hantierten, war nicht allzu groß. Es scheint, kommentierte Boucheljon bissig, die großen Herren bildeten sich ein, solche alte Leiden seien mit einmaligem Einschmieren und ohne Schmerzen zu kurieren.[45] Dessenungeachtet hielt der geplagte Fürst die ihm erwiesenen Dienste eines Abschiedsgeschenkes von zwei Seiden-Kimonos wert.[46] Diese waren in Europa überaus begehrt und würden Hancke ein ansehnliches Zubrot einbringen.
Rückreise nach NagasakiAm 20. Februar verehrte man Inoue einen arabischen Schlangenstein samt einer bunt bemalten holländischen Kanne.[47] Noch einmal suchte sein Dolmetscher Hancke auf, um sich über einige Arzneien kundig zu machen.[48] Inzwischen waren die Vorbereitung für die Rückreise nach Nagasaki in vollem Gange. Nun wurden auch diverse Rechnungen beglichen, Gegengeschenke gemacht und Dank für allerlei Gefälligkeiten erstattet. Ebenso wie der Fürst von Tosa lohnte Inoue die Dienste des Chirurgen mit zwei Seiden-Kimonos (“rocken”). Im Vergleich zu den vier Röcken für den Faktoreileiter war das sehr großzügig.[49] Bemerkenswert auch kleinere Aufmerksamkeiten des Reichsinspekteurs wie ein Kästchen mit frisch gebackenem Brot, das kurz vor der Abreise in der Herberge eintraf. Zwar hatten die Niederländer in Nagasaki ihren Vertragsbäcker, doch ansonsten war im ganzen Land nach der Vertreibung der Portugiesen das Brotbacken (vielleicht wegen der möglichen Nutzung als Hostie?) verboten. Eine gelegentliche Schnitte auf dem langen Heimweg mit all seinen Reismahlzeiten würde unvermeidlich Gefühle der Dankbarkeit für den Spender wecken. Am 25. Februar verließ die Reisegruppe Edo. Abends erreichte sie Odawara, Sitz des 'Bewahrers von Mino'(Mino no kami), Inaba Masanori.[50] Schon in Edo hatte man ihnen in einer schriftlichen Notiz dessen Krankheit erklärt. Weil dort indes die Zeit nicht reichte, erklärte Hancke nun hier, woher diese Krankheit entstehe, welche Speisen gut und welche schädlich seien. Alles wurde sorgfältig aufgeschrieben und nach Edo zu Inaba geschickt.[51] In Mishima, dem Reiseziel des folgenden Tages, entdeckte Hancke dann ein Kraut gegen Blasensteine. Noch am selben Abend ging es samt einer entsprechenden Erklärung an Inoue ab, verbunden mit herzlichem Dank für das Brot, das ihnen nun sehr zustatten käme.[52] Die Mühe um Inaba sollte sich bald auszahlen. Im folgenden Jahr rückte er an die Stelle des alten Herren von Sanuki zu einem der vier Senioren-Reichsräte auf. Er habe sich, schreibt der Faktoreileiter voller Genugtuung, von jung an als Freund ihrer Nation erwiesen.[53] Leider blieb dieses gute Verhältnis nicht ungetrübt.
Mukai Mukai Genshô ein 'hochgelahrter Schüler'Zurück in Nagasaki geriet das Problem der Blasensteine keineswegs in Vergessenheit. Als ein Japaner, vermutlich ein Beamter der Gouvernatsverwaltung, nach Edo aufbrach, vertraute man ihm schriftliche Ausführungen zu diversen Mitteln an.[54] Und auch Inoue wartete nicht untätig bis zur folgenden Hofreise. Er schickte dem Gouverneur Nagasakis ein Schreiben, dessen Inhalt man dem Faktoreileiter Boucheljon am 6. Mai 1656 bekannt machte. Demzufolge sollte der in der Stadt lebende 'vornehme Arzt' Mukai Genshô anhand einer 'memorie', die man den Niederländern in Edo zur Hand gestellte hatte, in der 'Medizin und im Zubereiten einiger Arzneien unterrichtet werden'.[55] Aus dem Bericht, den Boucheljon am 1. November jenes Jahres für seinen Nachfolger verfaßte, ersehen wir, daß während des Frühjahres in Edo trotz der mehrfachen Begegnungen zwischen Inoues Leibarzt und Hancke die Zeit nicht ausgereicht hatte. Besagtes Memorandum behandele 'das Präparieren von Arzneien samt der Mittel gegen diverse Krankheiten, denen der Mensch gemeiniglich' unterliege.[56] Der hier erstmals in einer Quelle der VOC erwähnte Mukai lebte seit seinem dritten Lebensjahr in Nagasaki. Seit 1647 lehrte er in einem von ihm gegründeten Konfuziustempel. Wie viele der konfuzianischen Gelehrten, die sich im klassischen medizinischen Schrifttum auskannten, sicherte er den Lebensunterhalt durch eine ärztliche Praxis. Leider weiß man nicht, bei wem er sein offenbar beachtliches Fachwissen erworben hatte.[57] Es heißt, daß ihn sogar der mächtige Fürst von Fukuoka um Beistand gebeten habe - vergeblich. Inoue, der ja einer Art Reichssicherheitsdienst vorstand, hatte für seine Wahl sicher gute Gründe. Doch zurück zum 6. Mai 1656. An jenem Abend machte Mukai in Begleitung der Dolmetscher den obligatorischen Antrittsbesuch beim Faktoreileiter und erkläuterte seinen Auftrag. Nachdem er etwas Rotwein zu sich genommen hatte, ging es wieder auf den Heimweg.[58] Zwei Tage später begannen die Unterweisungen. In Anwesenheit des japanischen Bürgervorstehers der Insel Deshima und aller Dolmetscher[59] fing man an, die Herstellung verschiedener Pflaster aufzuschreiben. Damit waren sie bis zum Abend beschäftigt. Allerding kamen ihnen schon bald gewisse Zweifel am Sinn ihrer Tätigkeit, heißt es im Faktoreitagebuch. Selbst wenn sie alles noch so weitläufig und breit aufzeichneten, diese Pflaster und Salben würden sie in Ermangelung diverser Drogen und Kräuter hier nicht anfertigen können. Trotzdem fuhr man in der Arbeit fort, um den Reichsinspekteur Inoue zufriedenzustellen. Falls der dann bestimmte Arzneien benötige, solle man ihm diese präparieren.[60] Das Unternehmen wurde in unregelmäßigen Abständen fortgesetzt. 'Durch den Oberchirurgen Hans Hancke', berichtete Boucheljon im Herbst seinem Amtsnachfolger, seien 'in aller Breite Erklärungen und Unterrichtungen gegeben' und schriftlich festgehalten worden, womit man insgesamt rund zwei Monate verbracht habe.[61] Die Auflösung von allerlei Mißverständnissen, das Übersetzen, das Nachfragen, die Wahl der japanischen Fachtermini, die endgültige schriftliche Formulierung, all dies dürfte in der Tat zeitraubend und strapaziös gewesen sein. Wenn Mukai in der Faktorei auftauchte, kämpften sämtliche Dolmetscher um eine korrekte Vermittlung.[62] Am 30. August schließlich notierte Boucheljon, daß Hancke den Arzt Mukai mündlich wie schriftlich weitläufig und ausreichend instruiert habe. Es sei zu hoffen, daß 'diese Leute es nun künftig ordentlich verstehen könnten'.[63] Man sollte sich davor hüten, diese Begegnung Hanckes und Mukais unter dem Schema “Lehrer - Schüler” abzuhandeln. Hier trat ein hochgebildeter Gelehrter auf, der gewiß mehr über die ostasiatische Medizin wußte als Hancke über die europäische, von der Philosophie, Ethik usw. ganz zu schweigen. Hervorzuheben ist auch, daß die Rezeption der westlichen Chirurgie nicht passiv erfolgte. Die Niederländer hatten schon in Edo ein Memorandum erhalten mit der Beschreibung der gewünschten Lehrgegenstände. Ohne die großen sprachlichen Schwierigkeiten wäre Hancke vermutlich rasch an die Grenzen seines Wissens gestoßen worden.
Verlängerung des JapanaufenthaltesIm Herbst 1656 war das Stationierungsjahr um, und offenbar spielte Hancke wieder einmal mit dem Gedanken an eine Rückkehr nach Europa. Doch Boucheljon mochte ihn nicht freigeben, war sein Oberchirurg doch bei den hohen Herren bestens angekommen, und derlei Liebesdienst zahlten sich für die Compagnie in irgendeiner Form aus. Wer wollte in anbetracht der großen Qualitätsunterschiede des Personals garantieren, daß ein neuer Mann ähnlich erfolgreich sein würde? Nach einer Erhöhung des Monatslohnes von 32 auf 42 Gulden ließ sich Hancke schließlich zu einem weiteren Jahr überreden. Seine gute Dienste hätten sich, so die Begründung für die ansehnliche Gehaltsaufbesserung, in der Hofstadt Edo beim Visitieren und Behandeln einiger Großer genugsam gezeigt.[64] Die Faktoreileiter selbst durften allerdings, so wollte es die japanische Regierung, nur jeweils ein Jahr in Nagasaki Dienst tun - wohl aus Sorge, sie würden Japan allzu gut kennenlernen. Boucheljons Nachfolger, der Oberkaufman Zacharias Wagener, war mit einem der Schiffe aus Batavia bereits am 18. August eingetroffen und ließ sich bis zum Herbst einweisen. In Südamerika und Ostasien weit herumgekommen und von cholerischem Temperament, sollte er sich bald den Beinamen 'Donnermann' verdienen.[65] Vieles lernte er im alltäglichen Umgang mit dem amtierenden Kollegen. Außerdem wurde für die Unterlagen ein schriftlicher Übergabeberichts unter dem Datum des Amtswechsels angefertigt. Hierin würdigte Boucheljon noch einmal die bisherige Instruktionen durch Hancke, die Inoue 'angenehm sei und wohl gefallen' werden. 'Das eine oder andere', daß die Japaner 'noch nicht gut begriffen hätten', fehle vielleicht noch. Doch würde besagter Chirurg mit Wagener wieder nach Edo gehen und könne dort behilflich sein. Wie Wagener selbst feststellen werde, mache man am Hof 'von der Heilkunst und unseren Chirurgen ein sehr großes Aufheben' und derselbe werde 'allda oft gebraucht'.[66] Infolge der Windverhältnisse liefen nur einmal jährlich Schiffe der Compagnie, meist ein halbes Dutzend, in die Bucht von Nagasaki ein. Bis spätestens November mußten die Güter gelöscht, verkauft und die gewünschten einheimischen Waren, überwiegend Stabkupfer, geladen sein, um rechtzeitig wieder nach Südostasien auszulaufen. Danach gab es bis zum folgenden Juni keine direkte Überseeverbindung mehr zur Zentrale in Batavia. Die Dolmetscher waren daher während der Sommermonate mit wichtigeren Angelegenheiten beschäftigt, so daß für das Übersetzen medizinischer Unterweisungen keine Zeit blieb.
Hatano Gentô,[67] ein 'Schüler' in NagasakiIm Spätherbst kehrte aber wieder Ruhe auf Deshima ein. Anfang November, schon wenige Tage nach Wageners Dienstantritt, schickte der Nagasaki-Gouverneur Kai no shô[68] einen 'geschoren japanischen Pfaffen' namens Hatano Gentô, Oheim des Stadtvogts Suetsugu Heizô.[69] Man solle diesem Mann doch den täglichen (!) freien Zugang zur Chirurgenecke des Meisters gestatten, auf daß der ihn unterrichte, wie man Öle und Kräuter mische, desgleichen die Plaster, um schwere Aposteme zu behandeln. Der von Boucheljon eingewiesene Wagener ließ hierauf Hancke in sein Zimmer rufen und gab ihm die entsprechenden Anweisungen.[70] In Wageners Tagebuch blieb das der einzige diesbezügliche Eintrag. Ein Jahr später findet man jedoch Hatanos Namen im Tagebuch des Amtsnachfolgers, weshalb hier Hatanos Weg noch ein wenig verfolgt werden soll., Dort heißt es, daß besagter Doktor zuvor schon in der Faktorei gewesen sei, was nahelegt, daß Hancke in der Tat seine Pflicht erfüllt hatte. Da im November 1657 das Personal gewechselt hatte, war eine erneute formelle Erlaubnis nötig, so daß sich die Szene vom November 1656 in fast gleicher Form wiederholte. Nur daß man nun nicht mehr von 'täglichen', sondern nur noch 'gelegentlichen' Besuchen im Chirurgenwinkel sprach.[71] Im Frühjahr 1658 findet man dann gelegentliche Hinweise auf Instruktionen durch Hanckes Nachfolger bzw. einen Ausflug zum Kräuterstudium.[72] Tatsächlich aber wurde Hatano, wie man unter dem Datum des 10. Juli 1658 lesen kann, fünf bis sechs Monate täglich unterrichtet. Offenkundig hatte er höhere Ziele. Da er binnem kurzen nach Edo ziehen sollte, bat er zum Schluß um eine Bescheinigung in holländischer Schrift, mit der gegebenenfalls belegen könne, daß er durch einen holländischen Chirurgen unterwiesen worden war. Aus Respekt gegenüber dem Stadtvogt Heizô und auch, weil die Instruktionen mit Vorwissen der Gouverneure erteilt wurden, stellte man ihm ein solches Testimonium aus.[73] Dies war das erste in einer Reihe von 'Zeugnissen', welche durch europäische Chirurgen in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts an japanische 'Schüler' erteilt wurden. Man sieht, daß Kenntnisse in westlicher Chirurgie inzwischen als nützlich erachtet wurden und eine Karriere fördern konnten. Leider ist der Verbleib dieses Zeugnisses heute unklar.
Auf Affe und Hund gekommenDas Vertrauen des Gouverneurs in die Künste Hanckes kannte keine Grenzen. Kurz darauf schickte er einen Boten mit einem Dolmetscher mit einem Anliegen, das Wagener als “unanständig” charakterisierte. Bei einer großen Jagdhündin, die ihm sehr am Herzen lag, war nach dem Werfen zweier Welpen eine 'garstigen Sache um das Hinterteil' entstanden, gegen die man keine Abhilfe wußte. Hancke hatte schon zuvor eine solche Hundebehandlung verweigert, so daß man Wagener nun nachdrücklich ersuchte, seinem Oberchirurgen zu befehlen, besagtes Tier 'stracks unter die Hände zu nehmen und allen Fleiß anzuwenden, um es so schnell wie möglich wieder zu kurieren'. Wagener erklärte dem Dolmetscher höflich, daß die heilkräftigen Arzneien der Europäer 'zur dienlichen Hilfe und Unterstützung schwacher, gebrechlicher Menschen, nicht aber für Hunde geschaffen wären'. Überdies sei es bei ihnen 'eine große Schande, wenn ein Meister seine menschliche Heilkunst, die er lange Jahre mit großen Kosten und Mühen erlernt habe, an so einer kotigen, stinkenden Hündin anwenden solle'. Worauf es hieß, daß hierzulande dies niemandem zur Schande gereiche, ja so mancher ihrer Doktoren würde eine solche Bitte als große Ehre erachten. Eine formelle Weigerung konnte unliebsame Folgen haben, so daß Wagner schließlich, um nicht Anlaß zu weiterem Mißvergnügen zu geben, Hancke nach oben rufen ließ und ihm in Anwesenheit des Dolmetschers mit allem Ernst empfahl, er möge der Bitte nachkommen. Was dieser, 'wenn auch ungern', dann tat.[74] Doch damit war der bittere Kelch noch nicht zur Neige getrunken. Knapp eine Woche später schickte der Gouverneur den neuen Dolmetscher Sukezaemon mit einem kleinen Affen in Wageners Zimmer. Er spiele mit dem Tier zu seinem Vergnügen, wenn er am Feuer sitze. Weil es aber den langen Schwanz öfters ins Feuer hängen ließ und daher einen ziemlichen Gestank verursache, solle doch der Meister denselben dicht am Leib abkappen und das Tier so lange bei sich halten, bis es wieder genesen sei. Was - unter Zähneknirschen - zur Stunde geschah. Wieder einmal geriet Wagener in Rage. Wer habe je von solchen fremden Kuren gehört: erst ein mageres Luder von Hündin, nun ein Affe, danach vielleicht eine Katze oder Eule! Doch all das Wüten am Schreibpult des Kontors half nichts. Er wußte nur zu gut, was auf dem Spiel stand, und so wolle er trachten, diesem schnell gekränken Großkopfeten (“groote Cabessa”) keinen Anlaß zu Mißvergnügen geben und ihm zu Willen sein, selbst wenn man verletzte Böcke, Büffel oder Schweine schicken würde.[75] Nach der Lektüre von Wagners Ausfällen fragt man sich unwillkürlich, welche Flüche wohl aus Hanckes Barbierstube in der Nachtluft verschallt sein mögen.
Kräutersuche und Vorbereitungen zur zweiten Edo-ReiseFast das ganze Jahr waren die Niederländer auf ihrer kleinen Insel, dem 'Eiland', eingesperrt. Die Chirurgen jedoch kamen dank ihrer Profession ab und zu in den Genuß einer Exkursion. Zum ersten derartigen Ausflug Hanckes im März 1656 heißt es, man sei unter dem Vorwand, medizinische Kräuter zu suchen, in die Stadt und aufs Gebirge.[76] Der zweite im Dezember 1656 zeigt deutlichere Konturen. Nach langer Zeit erschien wieder Mukai, auch für Wagner einer der berühmtesten japanischen Doktoren im Raume Nagasaki. Alle Dolmetscher versammelten sich. Mukai habe, so erklärten sie, die Erlaubnis des Gouverneurs, mit dem Oberchirurgen in die Stadt zu gehen. Dort wolle man in den Arzneihandlungen (“droguiste-winckeltjes”) einige nützliche Kräuter oder Arzneien gegen Blasensteine, mit denen der 'große Commissaris Chikugo-dono' sehr geplagt sei, suchen. Wagner ließ Hancke rufen und gab die entsprechenden Anweisungen. Gegen Mittag zogen sie los und kehrten nach etwa drei Stunden wieder hungrig zurück, ohne daß man etwas besonderes gefunden hatte.[77] Am 4. Januar 1657 ging Hancke wieder mit Mukai, einem Beamten und allen Dolmetschern in die Stadt, um bei der Suche nach weiteren Kräutern und Arzneien behilflich zu sein.[78] Am folgenden Tag durften der - wegen seiner Scheu vor unnötigen Geldausgaben - etwas mißmutige Wagner und drei weitere Niederländer mit.[79] Am 14. Januar erschienen nach dem Mittagessen alle Dolmetscher mit einem 'gewissen Doktor', gemeint ist Mukai. Sie brachten zwei japanische Schriften, welche beide die 'Heilkunst auf europäische Weise' beinhalteten. Besagter Doktor habe sie auf Order des Reichsinspekteurs Inoue vom Oberchirurgen recht gut gefaßt und mit Hilfe der Dolmetscher übersetzt. Der Gouverneur wolle, daß Wagner sie nach Edo mitnehme und Inoue aushändige. Jedoch sollten sie zuvor durch den Heilmeister unterzeichnet und insgleichen durch Wagners eigenhändige Unterschrift bestätigt werden, daß 'alles was jener dem besagtem Doktor aus verschiedenen Autoren erklärt und gelehrt' habe, 'aufrichtig und nach seiner besten Kenntnis getan' war. Wagner hielt das persönlich zwar für eine 'fremdartige und ungereimte Erklärung', doch kam er nicht umhin, dem Begehren des Gouverneurs zu folgen.[80] Einen Tag vor der Abreise nach Edo schickte der Gouverneur den Dolmetscher Namura Hachizaemon[81] mit jenes 'Medizin-Buches'. Wagner weist im Tagebuch auch hier wieder darauf hin, daß der 'Meister so lange überaus beschäftigt war, die Kunst zu beschreiben'. Die ihm überrreichte Schrift war rundum versiegelt. Er wurde angewiesen, sie gut in seinem Comptoir-Schränkchen aufzubewahren und nach der Ankunft in Edo an Inoue weiterzuleiten, denn sie solle als ein Neujahrsgeschenk für ihre Majestät dienen.[82] Das zweite, von den Wagener und Hancke unterschriebene Exemplar war dann wohl eine Dublette, die vermutlich beim Gouverneur Kainoshô verblieb. Schon am folgenden Tag lichtete man die Anker und begab sich auf die Reise zum Hofe, die mit knapp vier Wochen zügig ans Ziel führte.
Die ersten Glasaugen in Japan und andere RaritätenWagener war angewiesen, eine Verbesserung der Handelsbeziehungen zu erreichen, weshalb die Compagnie bei der Auswahl der 'Raritäten' in diesem Jahr einige Anstrengungen gemacht hatte. Neben den stets willkommenen Fernrohren, Spiegeln, Lupen und Brillen schleppte man dieses Mal für den Shôgun einen großen Casuaris heran. Dem Auge bot dieser groteske Vogel aus Banda eigentlich wenig Anlaß zum Entzücken. Zudem war das sicher nicht artgerecht untergebrachte Tier ein wenig agressiv, was Wageners 'kleiner schwarzer Junge', ein Sklave, am Leibe zu spüren bekam.[83] Doch fraß der Casuaris angeblich glühende Kohlen und schied die - natürlich gelöscht - später wieder aus. Transport und Haltung bereiteten einiges Kopfzerbrechen, das in Edo erregte Aufsehen war indes gewaltig. Dennoch war sich Wagener angesichts der auffällig vielen Besucher nach ihrer Ankunft nicht ganz sicher, wem von beiden 'Monstertieren' das große Interesse galt, dem Casuaris oder ihm.[84] Anders als bei Stoffen, Fernrohren, Lupen oder Brillen konnte von irgendeinem Gebrauchswert nicht die Rede sein, und so kam das mit gelben Socken (!) aufgeputzte, von japanischen Malern unter dem Namen Feuerfreßvogel (Hikuidori)[85] verewigte Präsent am Hofe nicht übermäßig gut an. In jenem Jahr kamen erstmals in der japanischen Geschichte Glasaugen ins Land, ingesamt sieben Paar aus Holland in einem Schmuckkästchen im Werte von 152 Gulden. Sie waren laut Faktur im Jahre 1654 bestellt und mit dem Schiff Aaernehm 1656 in Batavia eingetroffen, wo man sie auf in die Jacht Calff umlud.[86] Da Chirurgen mit derart kostbaren Prothesen nur selten zu tun hatten, fügte man der Transportfaktur eine kurze Gebrauchsanweisung bei:
Bisher gab es keinerlei Beleg, daß man während des siebzehnten Jahrhunderts in Japan Glasaugen überhaupt kennengelernt hatte. Inoue war einmal mehr seiner Zeit weit voraus. Man ist versucht, sich auszumalen, wer diese Augen einsetzte, und welche Farbe sie hatten. Daß sie paarweise bestellt wurden, deutet auf Studienmuster hin, doch warum in solch großer Zahl? Höchstwahrscheinlich schmolzen auch diese kostbaren Objekte in den Flammen jener Brandkatastrophe, die schon kurz darauf Inoues Wohnsitze einäscherte. Da die Samen holländischer Gewächse in Inoues Garten die Begehrlichkeit einiger Reichsräte geweckt hatten, brachte Wagner nun Nachschub. Dazu Setzlinge von 'siamesischen Apfelbäumen', die mit Wurzeln und Erde den Überseetransport nach Japan überstanden hatten.[88] Auch der Transfer medizinischer Kenntnisse ging weiter. Inoue hatte u.a. einige Ventosen (Schröpfgläser) erhalten,[89] zu denen Hanckes wohl einiges erklärten mußte. Am 20. Februar erschien Inoues Dolmetscher in der Herberge und richtete im Auftrag seines Herren mit dem Chirurgen diverse Arzneien her, darunter Fuchsfett bzw. Fuchsöl (Oleum Vulpinum) - sehr zum Mißvergnügen Wageners, der den üblen Gestank und Rauch kaum aushalten konnte.[90] [91]Den Audienztag beschrieb Wagener mit dem ihm eigentümlichen Sarkasmus. Um ein Haar wäre er, als er sich sich im Audienzsaal - wie angewiesen - anschickte, auf alle Viere niederzugehen, der Länge nach hinschlittert. Dann der Ruf 'der holländische Kapitän' ('Oranda Kapitan') als Signal, das Gesicht noch tiefer zu den Bodenmatten zu senken. Im Tagebuch fragte er sich allerdings hinterher, ob er nun so lange vor einem Menschen, einer Eule oder einem Affen gelegen hatte.[92] Zurück im Antichambre gab es allseitige Glückwünsche zum Gelingen des Ereignisses. Nachmittags und in den folgenden Tagen standen Danksagungen bei den wichtigsten Würdenträgern an, die allerdings offiziell nicht im Hause zu weilen pflegten ihre Sekretäre vorschickten.
Im Inferno der brennenden Hofstadt'Ein ums andere Mal' hatte der rührige Inoue von den Niederländern eine Löschspritze aus Batavia angefordert. Doch die war 1657 wieder nicht gekommen, wofür es erneute Entschuldigungen und Begründungen gab, von denen man nicht weiß, ob sie stimmten.[93] Brände in der aus Holz errichteten Millionenstadt waren nicht selten. Selbst während der kurzen Zeit ihres Aufenthaltes in Edo konnten die Europäer fast alljährlich Brände in der näheren und ferneren Umgebung ihrer Unterkunft beobachten. Meist bekam man sie dank eines gut funktionierenden nachbarschaftlichen Löschsystems unter Kontrolle. Anders im Frühjahr des Jahres 1657. Am 2. März waren Wagner und Hancke zu Gast beim Reichsinspekteur. Der Chirurg erläuterte den Gebrauch der mitgebrachten europäischen Arzneien,[94] und gerade, als Inoue ihm 'für die große Mühe dankte, die er sich seinetwegen beim Unterrichten im vergangenen Jahr in Nagasaki gemacht' habe, da hörte Wagner ein 'fremdes Geläut wie von einer großen Glocke'[95] und kurz darauf ein 'großes wie, von ferne kommendes Getöse'. Ihr Gastgeber schob eine der mit Papier bespannten Schiebetüren ein wenig auf, streckte den Kopf hinaus, zog ihn aber sofort wieder ein. Entweder hatte er nichts gesehen, oder er wollte ihnen keinen Schrecken einjagen. Zunächst fuhr er fort mit Fragen, doch dann trat ein Jüngling ein, um ihm etwas mitzuteilen, worauf er das Zimmer verließ, den Europäern aber bedeutete, sitzen zu bleiben. Als die Zurückbleibenden kurz darauf hinaus auf die Gallerie traten, sahen sie im Norden einen hoch aufsteigenden schwarzen Rauch, der von einem vehementen Brand ausging. Überdies trieb der starke Nordwind die Flammen stadteinwärts. Unterdessen kam ein Sekretär Inoues und ließ den Hausherren entschuldigen, der dringende Amtsgeschäfte wahrzunehmen habe. Wagener und seine Begleiter nahmen hierauf Abschied und kehrten in ihre Herberge zurück, wo sie kurz nach vier Uhr eintrafen. Dort hatte der der Assistent Mulock mit einem Diener die wichtigsten Papiere in Kisten zu Kleidern und Schlafgut gepackt, um sie mit den übriggebliebenen Geschenken, dem Proviant und Silber im vermeintlich brandsicheren Packhaus (“goddon”) der Herberge zu verstauen. Andere waren aufs Dach gestiegen und beobachteten die Flammen. Weil es zunächst hieß, der Wind sei umgeschlagen, unternahm man noch nichts. Doch als sie so hin und her überlegten, schreibt Wagner im Tagebuch, hastete eine Menge von mehr als tausend Menschen mit Alten und Kindern beladen vorbei, was sehr jämmerlich anzusehen war. Dann kam Hancko herunter und bat Wagner, er möge sich die Mühe machen, nach oben zu kommen und diesen Brand besichtigen. Seiner Ansicht sei es unmöglich, daß das Haus dem widerstehen könne. Hierauf kletterte Wagener mit Hanckes Hilfe aufs Dach und sah mit Schrecken und innerlicher Beklemmung, daß diese 'Welt von Stadt' lichterloh brannte. Ja, die zuvor klar scheinende helle Sonne, sei von schwarzem Rauch verdeckt und verdüstert gewesen. Obwohl das Feuer noch eine Viertelmeile entfernt war, habe man dessen Kraft und Hitze bereits spüren können. Der starke Nordwind trieb die Flammen wie eine brausende See gut eine Meile in die Breite, und die Funken jagten wie ein dicker Regen vorwärts. Allmählich konnte man erkennen, daß auch ihr Domizil nicht verschont bleiben würde. So wurden denn Türen und Fenster des Packhauses verschlossen und mit Lehm verschmiert. Die Kiste mit dem Geld der Compagnie wollte man in das Haus des zweiten, in Edo amtierenden Nagasaki-Gouverneurs Yohyôe[96] bringen lassen. Die Flucht durch die von Menschen und Gütern hoffnungslos verstopften Gassen der Stadt, das Inferno der Flammen, das Geschrei der Verzweifelten und Sterbenden - Wageners Tagebuch vermittelt ein grausiges Bild der Katatrophe. Arnoldus Montanus, der eine Reihe von niederländischen Reisetagebüchern mit anderen Dokumenten der Compagnie zu einem Buch über 'Denkwürdige Gesandtschaften an die Kaiser von Japan' zusammenfaßte, sie aber oft durch abschweifende Exkurse unterbrach, bleibt bei der Schilderung dieses historischen Großbrandes von Edo ganz im Banne von Wagners Zeilen.[97] Ü ber Menschen, Kästen und Wagen stiegen die mittlerweile ebenfalls um ihr Leben kämpfenden Europäer und ihre japanischen Begleiter. Schließlich brachen sie durch Wände und Mauern, bis sie endlich außer Gefahr waren. Dann die Suche nach einer Unterkunft in der Nacht. Weder beim Nagasaki-Gouverneur noch beim Herrn von Hirado gab es noch Platz für sie. Nach langem Herumirren gewährte ihnen ein armer Mann Unterkunft in seiner zugigen Hütte. Später kamen andere Überlebende hinzu, und von einem hörten sie abends um zehn, daß ihre Herberge bereits eine halbe Stunde nach ihrer Flucht in Asche aufging. Am folgenden Tag, dem 3. März, wüteten die Flammen noch immer. Da der Wind gedreht hatte, sprangen sie gegen Mittag sogar auf das Schloß über. Nur mit Mühe konnten sich der Shô gun, die Reichsräte und andere vornehme Herren und Damen retten.[98] Am 4. März, für die Niederländer ein Sonntag, zog Wagener mit Verschuiren und etwa zwanzig japanischen Begleitern durch die Brandwüste zu den Resten ihrer Herberge, vorbei an halbverkohlten Leichen von Männern, Frauen und Kindern. Unter den Toten lagen irgendwo drei ihrer japanischen Diener. Das angeblich brandsichere Packhaus stand nicht mehr. Alle noch nicht verteilten Geschenke und Waren waren vernichtet und ihr Silber in der Hitze zusammengeschmolzen. Zwar suchte der Gouverneur Yohyoe für sie eine Unterkunft, doch Lebensmittel waren sehr schwer zu bekommen. Viele der hohen Herren, die der Compagnie eigentlich Geld schuldeten, verloren durch den Brand ein Vermögen. Beide Residenzen Inoues, sowohl die in als auch die vor der Stadt, lagen in Schutt und Asche.[99] Die eigentlich fälligen Gegengeschenke kamen unter diesen Umständen nicht zusammen. Wagner wäre am liebsten sofort nach Nagasaki zurückgereist, doch die Reichsräte hielten die Straßen wegen der gehungernden Menschenmassen für zu gefährlich.[100] Am 9. März schließlich brach man auf, und zog, die meisten Brücken waren zerstört, durch die Ruinen des Schlosses aus der Stadt hinaus.[101] Am 7. April erreichten sie, “Godt danck”, ihre Faktorei in Nagasaki. Erst am 22. Mai trafen aus Edo die Gegengeschenke ein, dieses Mal lediglich dreißig Kimonos und sechzig Schuit Silber, was in keinem Verhältnis zum Wert zu den überreichten Präsenten stand.[102] Dennoch, die Niederländer hatten eine der größten Katastrophen der Edo-Zeit überlebt, die rund hunderttausend Opfer forderte und als 'Meireki-Großbrand' [103] in die Annalen einging. Im Edo-Tokyo-Museum findet man unter den Objekten im Zusammenhang mit diesem Feuer ein Aquarell der Brandwüste aus europäischer Hand zusammen mit einer damals eingefügten Bildlegende. Neben einem 'Stück des abgebranntes Schlosses', einem 'doppelten Torplatz, indem über tausend Menschen verbrant sind, 'Begräbnissen', 'stehengebliebene Speicher', 'kaiserlichen Gefängnissen', ist auch die große Zahl von 'toten Menschen' festgehalten, 'die überall auf der Staße im Sterben lagen'.[104] Die exakte, geometrische Konzeption der Straßen auf einen Fluchtpunkt außerhalb des Bildes hin verrät eine geübte Hand. Zwar schreibt der Museumskatalog,[105] daß der Maler unbekannt sei, doch am vierten März zogen nur Wagener und Verschuiren durch die Stadt zu den Resten ihrer ehemaligen Herberge. Jenes Doppeltor der Bildlegende ist das im Tagebuch erwähnte Asakusa-Tor (Asakusa mon).[106] Wagener war nicht nur der Sohn eines Malers, er hatte, bevor er in die Ostindische Compagnie eintrat, jahrelang im Dienste der Westindischen Compagnie als Zeichner in Brasilien gearbeitet und pflegte auch nach seinem Japanaufenthalt zum Pinsel zu greifen. Ein Vergleich mit den von ihm stammenden brasilianischen Tierbildern im Kupferstichkabinett Dresden sowie den 1663 in Südafrika entstandenen Bild des neuen Wasserreservoirs im Algemeen Rijksarchief in s'Gravenhage ergibt zahlreiche stilistische Übereinstimmungen. Ebenso die Schrift in Zeichnung Edos und der des Wasserreservoirs. Überdies findet sich die von Wagener im Tagebuch verwendete, etwas merkwürdige Bezeichnung der japanischen Speicher als “goddon” in der Bildlegende ebenfalls wieder. Montanus, der diese Zeichnung nicht kannte, ließ seinen Kupferstecher aufgrund der schriftlichen Schilderung eine Illustration der brennenden Stadt entwerfen, die zwar angemessen dramatisch, aber sehr phantasievoll und 'orientalisch' ausfiel.[107]
Zurück in NagasakiDa sowohl Inoues Residenzen als auch das Nagasaki-Haus zerstört wurden, ging mit höchster Wahrscheinlichkeit die Schrift Mukais in Asche auf. Dies wird durch eine Episode kurz nach der Rückkehr auf die Insel Deshima unterstrichen. Am 20. April ließ der Nagasaki-Gouverneur vier Dolmetscher anfragen, ob die Medizin-Bücher des Meisters im Edoschen Brand geblieben wären, oder ob er die noch habe. Er würde sie gerne mit der Hilfe des Chirurgen und einiger japanischen Doktoren aufs Neue auslegen und in japanischer Schrift aufstellen lassen. Als die Dolmetscher hörten, daß die Bücher allesamt mit dessen Barbierkiste verbrannt waren, schauten sie sich an und und lachten. Wagners Eindruck, daß sie sich freuten, so 'von einer langwierigen, mühsamen und verdrießlichen Arbeit befreit' zu sein, war sicher korrekt.[108] Allerdings gab es irgendwo, vermutlich beim Gouverneur, noch jenes zweite Exemplar der im Januar von Hancke und Wagener signierten Schrift. Die letzten Monate von Hanckes Japanaufenthalt verliefen daher ziemlich ruhig. Mitte Mai führte man ihn ins Haus eines alten berühmten Nagasakischen Bürgers, um zu sehen, ob ein gewisser veralterter 'accident' auf dessen Rücken heilbar wäre.[109] Eine knappe Woche tat er zweimal täglich sein Bestes, doch das Fleisch über den ganzen Rücken war allzu verwachsen und verrottet auf dem Knochen, so daß der Patient schließlich verschied.[110] Im Juli wurden Hancke und der Unterbarbier um Begutachtung von 8 'weißen Korallen' gebeten, die auf einer Schnur aufgereiht waren. Man hatte dem Gouverneur ehedem erklärt, sie seien aus einer Rippe oder dem Knochen einer Meerminne gedreht. Aber die 'Meister', die sich das lange angesehen hatten, wußten auch nicht mehr darüber zu urteilen, als daß es Hirschorn oder ein anderer schwammartiger Knochen sein müßte.[111] Am 20. August traf Wageners Nachfolger ein, sein ehemaliger Vorgänger Jan Boucheljon.[112] Er brachte unter anderem die langerwartete Brandspritze mit, einen holländischer Sattel mit Zaumzeug, Spieße und morlioer, einen Straußvogel, Lesegläser (Lupen), Himmels- und Erdfernrohre, Nasenbrillen (für 40-, 50-, 60-, 70-. 80- und 90jährige), Messer mit Griffen aus Walroßzahn, silberne meykens, Talkblumen, Seidenblumen, schwarze Bezoarsteine, eine Medikamentkiste und eine Lade mit 15 Flaschen destillierter Öle samt 6 Scheren und 6 Schermesser (durch den Oberchirurg des Castells Batavia hergerichtet), Alkative, Ketten mit Blutkorallen und natürlich viele viele, kostbare Stoffe und anderes mehr.[113] Bis zur Auslieferung nach Edo ließen es sich einige der einflußreichen und neugierigen Leute der Region, denen man gefällig sein mußte, nicht nehmen, das eine und andere unter Augenschein zu nehmen. Der amtierende Nagasaki-Gouverneur hatte seiner Neugierde bereits kurz nach dem Einlaufen der Schiffe im August freien Lauf gegeben.[114] Dann kam der Verkauf der Compagnie-Güter wie auch der Ankauf der Ausfuhrwaren, was alles in einer vorgeschriebenen Frist erledigt werden mußte. Mitten während dieser wenigen Verkaufstage, in denen jederman die Hände voll zu tun hatte, erschien zur hellen Freude Wageners der junge Herr von Hakata mit einem großen Staat von Edelleuten und Dienern. 'Seine Hoheit' ließen die Spritze, den Straußvogel, verschiedene Papageien und Kakadus wie auch einige schwarze Jungens (“swarte jongens”) kommen, um sie 'ein wenig' zu 'besichtigen'.[115] Drei Tage später gaben die Gouverneure[116] (es stand ein Amtswechsel bevor) mit dem Stadtvogt Suetsugu Heizô der Faktorei die Ehre ihres Besuches, um die Feuerspritze zu beäugen. Danach stiegen sie zu Wagners Zimmer, ließen alle 'schwarze Jungens mitsamt einem großen Kaffern (der ein wenig auf der Viola spielen konnte) nach oben rufen und sich ungefähr eine halbe Stunde mit Singen und Spielen die Zeit vertreiben'.[117] Nur dank solcher 'Störungen' geraten die auf Deshima gehaltenen Sklaven aus Südostasien und Afrika in unser Blickfeld, über deren Lage und Wandel fast nichts bekannt ist.
Abschied von JapanHancke verließ Japan mit höchster Wahrscheinlichkeit im Herbst dieses Katastrophenjahres 1657. Er hatte sich ja schon im Vorjahr nur nach langem Hin und Her auf eine Verlängerung eingelassen. Nun war der Lohn dafür zwar nicht knapp ausgefallen, doch seine Chirurgenkiste war mitsamt den Büchern verloren, und die um Haaresbreite überlebte Brandkatastrophe stimulierte gewiß nicht zum weiteren Verbleib. Der Name seines Nachfolgers steht nicht fest. Einige Forscher nennen Cornelisz. Mulock; im Tagebuch von Deshima wird der jedoch als Assistent geführt, d.h. er hatte die kaufmännische Laufbahn eingeschlagen.[118] Nun gab es zwar noch einen Unterbarbier namens Pieter Jacobsz. Doch das waren Leute ohne 'zünftige Ausbildung', die sich das eine oder andere angeeignet hatten und in der Faktorei aushalfen, wenn der Oberchirurg in Edo weilte. Infolge der schlechten Entlohnung und Karrierechancen hatten viele Unterchirurgen mit der Chirurgie eigentlich wenig im Sinn. So auch Jacobsz, der sich sich am 27. Oktober 1657 zwar für weitere drei Jahre verpflichtete, dabei jedoch 'inständig' um die Position eines Assistenten bat. Diese wurde ihm rückwirkend vom 10. Mai 1657 zugesprochen, weil er, schreibt der scheidende Wagner, der Compagnie gute Dienste im Packhaus (!) erwiesen habe. Allerdings nur unter der Bedingung, daß er bis Herbst 1658 zugleich sein Amt als Unterchirurg auf Deshima weiter ausübe.[119] Anfang November erschien auf Anweisung des nach Edo abreisenden Gouverneurs Kainoshô nach langer Pause Mukai Genshô wieder einmal beim Faktoreileiter. Man solle auf japanisch ein neues Buch über die Heilkunst schreiben. Obwohl ein solcher 'Hofdienst nichts als freudlose Mühe' bedeute, ließ Boucheljon den Chirurgen holen, dem er in aller Anwesenheit die entsprechenden Anweisungen gab.[120]Tags darauf begann Mukai mit seinen Aufzeichnungen über die Zubereitung diverser Öle.[121] Nach täglichen, weitläufigen Unterrichtungen schien es ihm am 26. November 'vollkommen zu genügen', weshalb er nachmittags unter Dankbezeugungen seinen Abschied nahm. Er wolle, so erklärte er, seine Aufzeichnungen, nachdem er sie in die geziemende Ordnung gebracht habe, dem Gouverneur, also Kainoshô , nach Edo schicken.[122] Der letzte Besuch Mukais in Deshima ist unter dem Datum des 17. Dezember registriert, als er er mit zwei Beamten auftauchte. Der Gouverneur habe ihm erlaubt, mit dem Chirurgen in die Stadt zu gehen und dort in einigen Gärten nach unbekannten Kräutern zu sehen. Kurz nach Mittag brachen sie auf. Nachdem sie diverse Heilkräuter gefunden hatten, kehrten sie abends wieder zurück.[123] Im folgenden Jahre 1658 siedelte Mukai nach Kyôto über, so daß man keine weiteren Hinweise in niederländischen Quellen mehr erwarten kann. Hanckes weiterer Lebensweg liegt noch im Dunklen. Fußnoten
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